Das EU-Parlament ist ja gar kein vernünftiges Parlament. Also kann man es getrost mit Winzparteien und Politsektierern vollpacken. Was beim Bundestag als tödliche Gefahr für die Stabilität der Demokratie gilt, lässt sich beim EU-Parlament mit einem Achselzucken ertragen.
Das ist die Quintessenz der heutigen Entscheidung zur 5%-Hürde bei den Europawahlen aus Karlsruhe. Einer Entscheidung, die in der Hall of Fame der intellektuellen Großtaten des Zweiten Senats wohl eher in einem der abgelegeneren Ausstellungsräume ihren Platz finden wird.
Vom Ergebnis her gedacht ist der Wegfall der 5%-Hürde bei Europawahlen natürlich erstmal eine schöne Sache für FDP, CSU (Foto) und andere Splitterparteien. Ihnen bleiben in jedem Fall ein paar Posten in Brüssel/Straßburg gewiss. Gratuliere dazu. Der NPD übrigens auch. Schöner Erfolg.
Aber das ist nicht der Punkt.
Der Punkt ist für mich dieser: Der Zweite Senat springt hier wieder mal in einer Weise mit dem Parlament um, dass einem ganz schwindlig wird. Gar nicht in erster Linie mit dem Europaparlament. Sondern mit dem Deutschen Bundestag.
Bundestag als Machtkartell
Der hat das maßgebliche Wahlgesetz erlassen und sich darin für eine 5-Prozent-Hürde entschieden. Das ist seine Zuständigkeit, dafür ist er verantwortlich und niemand sonst. Dabei, so räumt die Senatsmehrheit treuherzig ein,
hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe des Gesetzgebers zu übernehmen und alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen.
Aber, so der Senat weiter, eigentlich hat es dann doch genau diese Aufgabe, und zwar aus folgendem Grund:
Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle
Wie bitte? Da stellt das Gericht einfach mal so ganz gelassen in den Raum, dem Bundestag sei bei der Regelung des Wahlrechts nicht zu trauen, weil die Mehrheit sich ja doch nur die Konkurrenz vom Leib halten wolle? Unser Parlament sei ein korruptes Machtkartell und habe deshalb sei in allen Fragen des Wahlrechts ein rigoroses verfassungsgerichtliches Mikromanagement nötig?
Herr Lammert, möchten Sie sich vielleicht dazu äußern? Sollten Sie, finde ich.
Was sich seit 1979 geändert hat
Wo ich auch nicht recht mitkomme, ist die Passage, wo es um die Frage geht, was passiert, wenn die Welt sich ändert und die Prognoseannahmen des Gesetzgebers nicht mehr stimmen (RNr. 90). Dann, so die Senatsmehrheit wenig überraschend, ändert sich natürlich auch die Beurteilung des Ergebnisses. Woraus sie ableitet:
Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden.
Dazu muss man wissen, dass der Senat 1979 schon mal über die 5%-Hürde bei Europawahlen zu urteilen hatte und damals überhaupt kein Problem dabei erkennen konnte.
Diese Entscheidung kommt in der Begründung aber nur ganz am Rande vor. Mir ist bei ihrer Lektüre ehrlich gesagt nicht wirklich klar geworden, warum die 5%-Klausel 1979 zum Funktionieren des EU-Parlaments unabdingbar war und heute nicht mehr. Umgekehrt, okay. Damals hatte das EP kaum etwas zu melden, wozu also eine 5%-Hürde. Aber so herum? Großes Rätsel.
Stattdessen dekliniert uns die Senatsmehrheit vor, was das Parlament so alles tut und warum es dabei jeweils nicht so schlimm ist, ob da nun ein paar Einzelfreaks mehr oder weniger herumspringen.
Den Ausschlag scheint dann zu geben, dass das EU-Parlament keine Regierung im eigentlichen Sinne wählt. Stimmt ja auch. Dass ansonsten die Mehrheitsfindung im Parlament schwieriger wird, und das in diesen Zeiten, räumt die Senatsmehrheit zwar gleichmütig ein, befindet das aber in sehr kleinteiliger Einzelfallabwägung jeweils für okay.
Dann macht es halt selber
Das scheint mir überhaupt das Ziel des Manövers zu sein: Die Senatsmehrheit möchte uns gern weiterhin nach jeder Wahl mit ihren Gedanken zu Erfolgs- und Zählwertgleichheit plagen, bedenkenvoll den Kopf wiegen und – wie formulierten sie das so schön? – „alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen“. Der Bundestag soll mal machen, und hinterher wird dann minutiös über ihn zu Gericht gesessen, was er wieder für Blödsinn angerichtet hat.
Ich stelle hiermit den Antrag, dass doch bitte künftig gleich die Wahlgesetze in Karlsruhe formuliert werden. Dann sparen wir uns viele langweilige Debatten und Monate der Ungewissheit, während derer der Deutsche Bundestag bzw. das Europaparlament mit dem Makel leben muss, womöglich nicht zur Zufriedenheit des Bundesverfassungsgerichts zusammengesetzt zu sein. Wir sparen uns das sterbenslangweilige Ritual, dass alle möglichen Nasen sich über die „Klatsche“ oder die „Ohrfeige“ ereifern, die sich unsere sauberen Politiker wieder einmal eingefangen haben. Wir wissen, woran wir sind, und können alle in Frieden unseren eigentlichen Aufgaben nachgehen.
Als es um das negative Stimmgewicht ging und die Regierungskoalitionen (der Skandal ist unbenommen) nicht zu Potte kamen, hatte Voßkuhle ja ganz kühl angedeutet, dass er sich und seinem Gericht solche legislative Kompetenz schon zutrauen würde.
Also los. Schreiben Sie uns doch einen Entwurf, bitte. Den winken wir dann durchs Parlament, und Ruhe ist.
Gespaltener Senat
Dass dem Senat selbst nicht ganz wohl ist mit der Geschichte, zeigt seine Gespaltenheit: Nur fünf der acht Richterinnen und Richter tragen das Ergebnis mit, nur vier die Begründung. Ein Sondervotum haben aber nur Di Fabio und Mellinghoff veröffentlicht, die beide kurz vor dem Ausscheiden stehen, als Abschiedsgeschenk sozusagen. Das sind bekanntlich beides Juristen, mit denen ich gerade bei Europathemen eher selten auf einer Linie liege. Hier aber sprechen sie mir aus dem Herzen.
Zu diesem Stimmverhältnis ein kleines verfassungsprozessuales Fragezeichen: Nach § 15 IV 2 BVerfGG kann bei Stimmengleichheit die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht festgestellt werden. Das heißt, wenn der eine Richter, der gegen die Begründung gestimmt hat, auch gegen das Ergebnis gestimmt hätte, dann wäre die Sache anders ausgegangen.
Hat er nicht, deshalb ist das schon korrekt – aber wäre es nicht richtig gewesen, zumindest die abweichenden Gründe dieses Richters zu veröffentlichen? § 31 BVerfGG findet zwar bei Wahlprüfungssachen keine Anwendung. Trotzdem: Hinter dieser Begründung steht nicht die Mehrheit der Richter. Gerade bei dieser Entscheidung wäre ich froh gewesen zu erfahren, welche Gründe alle diese Entscheidung tragenden Richter zu ihren Schlussfolgerungen bewogen hat.
