27. Mai 2010

Maximilian Steinbeis

Bet-Verbot in der Schule: Stop obsessing about religion!

Eine Schule darf ihren muslimischen Schülern verbieten, in der Pause zu beten? In der Tat, das darf sie, und das hat nicht etwa ein türkisches oder französisches Gericht geurteilt, sondern das Oberverwaltungsgericht Berlin.

Wie der Zufall will, hat justament gestern Abend der kanadische Philosoph Charles Taylor in der Humboldt-Universität einen Vortrag zum Thema Sekulare Gesellschaft gehalten, der mir bei der Beurteilung dieses Falls wie gerufen kommt. Taylor unterscheidet zwei Sekularismus-Modelle: Das „control model“ und das „diversity model“.

Control vs. diversity

Beim „control model“ geht es darum, den Einfluss der Kirche in der Politik zu minimieren. Die französische Laicité hat hier ihre Wurzeln, im Konflikt zwischen katholischen Monarchisten und sozialistisch-liberalen Republikanern in der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts, ebenso die türkische Variante des Kemalismus.

Beim „diversity model“ geht es um etwas vollkommen anderes: Es geht darum, Andersartigkeit in der Gesellschaft zu managen. Es geht um Gewissensfreiheit, um Gleichbehandlung aller Überzeugungen und um das gleiche Recht für alle, mit ihren Überzeugungen gehört zu werden. In inhomogenen modernen Gesellschaften muss ein sekularer Staat dafür sorgen, dass diese drei Rechte für alle gewahrt bleiben.

Das hat laut Taylor relativ wenig mit Religion zu tun: Angenommen, ein Häftling verweigert die Gefängniskost, weil er kein Fleisch essen will – spielt es dann eine Rolle, ob er das tut, weil er ein Hindu ist oder weil er Peter Singer gelesen hat? Nein, sagt Taylor. Ob religiös motiviert oder nicht, eine in diesem Sinne sekulare Gesellschaft wird den Gefangenen nicht zwingen, gegen seine Überzeugungen zu handeln.

Taylor nahm konkret Bezug auf die Debatte um das Kopftuch in der Schule. Es gebe da ein Dilemma zwischen der Gewissensfreiheit muslimischer Lehrerinnen und Schülerinnen und der Neutralitätspflicht staatlicher Schulen. Aus Sicht des „control models“ nehme man dieses Dilemma gar nicht wahr: Man beruft sich auf die Laicité und latscht über die Rechte der Frauen einfach hinweg.

Schlecht verhohlene Islamophobie

Was heißt das für den Fall unseres Berliner Schülers? Ausschlaggebend war offenbar die Überlegung, dass in der besagten Schule 29 Religionen vertreten sind. Bestimmten muslimischen Schülern zu erlauben, offen und demonstrativ auf dem Gang zu beten, würde den Schulfrieden stören und die Glaubensfreiheit anderer Schüler verletzen. Die Schule sei verpflichtet, die friedliche Koexistenz der Religionen zu gewährleisten und selbst religiös neutral zu bleiben. Wenn man still und für sich betet, okay. Aber nicht so, dass alle zuschauen müssen.

Bin das nur ich oder stinkt diese Begründung nach schlecht verhohlener Islamophobie?

Die Glaubensfreiheit anderer Schüler? Behauptet das OVG im Ernst, dass meine Glaubensfreiheit verletzt ist, wenn ich Andersgläubigen bei ihren religiösen Ritualen zuschauen muss? Was ist das für eine Travestie eines Grundrechts unserer Verfassung?

Hier wird nur einer in seiner Glaubensfreiheit verletzt, und zwar ganz direkt und massiv, und das ist der Schüler, der „still und unauffällig“ beten darf, aber nicht so, wie sein Glauben es von ihm verlangt.

Neutralitätspflicht? Die Neutralitätspflicht verpflichtet den Staat, neutral zu sein. Nicht ins Gesetz zu schreiben, dass in jedem Klassenzimmer ein Kruzifix zu hängen hat, beispielsweise. Sie verpflichtet ihn mitnichten, einen religionsfreien Raum zu schaffen. Diese Lesart, apropos Charles Taylor, ist „control model“ reinsten Wassers.

Schulfrieden? Wenn es an dieser Schule Leute gibt, die damit nicht klarkommen, dass einer auf dem Gang seine Gebete verrichtet, dann sind diese Leute das Problem und nicht der Betende. Sonst könnte man geradesogut in Eberswalde alle Schwarzen einsperren, damit die Nazis sich nicht aufregen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht gestört wird.

Wie sagte Charles Taylor gestern Abend in der Diskussion nach seinem Vortrag? „Stop obsessing about religion!“

Update: Auf EJILTalk nimmt Joseph Weiler den EGMR wegen seines italienischen Kruzifix-Urteils ins Gebet (tschuldigung) und wirft den Straßburgern vor, eine der delikatesten Fragen unserer Zeit in 11 dürren Absätzen abgehandelt zu haben.

Sonst beschweren wir uns immer, wenn die Richter uns mit schwartendicken Ausführungen jenseits aller juristischen Subsumtionsnotwendigkeit behelligen. Wie man’s macht…

Aber egal: Weiler regt sich auch materiell über das Urteil auf, und zwar vor allem über die Aussage, die Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit des Staates sei mit jeder Art von staatlichem Urteil über die Legitimität einer Religion oder ihrer Überzeugung unvereinbar. Weiler verweist auf die Queen als Oberhaupt der Church of England und andere Beispiele europäischen Staatskirchentums und wirft den Richtern vor, diese Vielfalt der Verfassungstraditionen und die darin implizierte pluralistische Toleranz ignoriert und negiert zu haben.

How one draws the line between the identitarian aspects of the state which might have religious elements and the need for an education which is free and not religiously coercive is an important and delicate issue. But you cannot even begin to draw that line if you do not acknowledge that in Europe there is such a line to be drawn.

Klingt wie reiner Charles Taylor.

Weilers Argument geht im Kern wie folgt: Das Kruzifix im Klassenzimmer ist ein religiöses Statement des Staates – aber das Fehlen eines Kruzifixes im Klassenzimmer auch.

Was soll man da tun? Jedenfalls nicht nach doktrinären Lösungen suchen.

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