2. Februar 2011

Maximilian Steinbeis

Ägypten: Entweder Demokratie oder Verfassung

Clark Lombardi wirft auf dem Comparative Constitutions Blog ein paar schwierige Fragen zu den atemberaubenden Vorgängen in Ägypten auf: Was, so fragt er, würde nach der geltenden Verfassung passieren, wenn Mubarak tatsächlich hier und heute seinen Posten räumen würde?

Die Antwort: Das wäre womöglich ein ziemlich guter Weg, die Autokratie im Lande auf Jahre hinaus zu zementieren.

Wenn Mubarak zurücktritt, müsste ein Nachfolger gewählt werden. Das geht nach Art. 76 der Verfassung so, dass das Parlament einen Kandidaten nominiert, der dann per Plebiszit ins Amt gewählt wird. Um überhaupt zur Nominierung vorgeschlagen zu werden, braucht man ein Drittel der Stimmen im Parlament. Damit ist klar: Niemand außer der ohnehin schon herrschenden Elite der Mubarak-Partei NDP hätte eine Chance, auch nur kandidieren zu können.

Also müsste zunächst das Ziel sein, die Verfassung zu ändern. Das geht aber nicht, wenn Mubarak jetzt zurücktritt: Denn dann muss nach spätestens 60 Tagen ein neuer Präsident gewählt werden (Art. 84). In dieser Zeit ist es ausgeschlossen, die Verfassung zu ändern, denn nach Art. 189 muss das Parlament erstmal prinzipiell beschließen, dass die Verfassung überhaupt geändert werden soll, und dann zwei Monate lang über die einzelnen Änderungen diskutieren.

One cannot help but admire the perverse craftsmanship of this scheme,

schreibt Clark.

Ein Moment der Verfassungslosigkeit

Der Ausweg wäre, dass Mubarak sich für „vorübergehend unfähig zur Amtsausübung“ erklärt. Dann würden seine Befugnisse auf Vizepräsident Suleiman übergehen, und das Parlament könnte die Verfassung in aller Ruhe ändern und damit Neuwahlen nach fairen Regeln ermöglichen.

Das hätte sicher seinen Preis, aber immerhin.

Und wenn nicht?

Wenn Mubarak tatsächlich jetzt und sofort weg soll, dann geht das nur über eine logische Sekunde der Verfassungslosigkeit, über eine tatsächliche und grundstürzende Revolution, die sich um Recht und Unrecht nicht länger schert und auch die geltende Verfassung (was immer sie wert ist) wegfegt.

(Update: nach einigem Nachdenken hab ich den Titel des Posts geändert)

Update: Vizepräsident Suleiman hat gerade angekündigt, dass im August, spätestens September gewählt wird, dass die Zeit bis dahin sehr knapp ist und dass verschiedene Gesetzesänderungen, auch solche an der Verfassung, vorher über die Bühne gehen sollen.

Das würde zumindest ein Fenster öffnen, auch den besagten Art. 76 zu ändern und somit wirklich demokratische Neuwahlen zu ermöglichen.

Ansonsten: Ich bin kein religiöser Mensch, aber das, was ich gerade in Gedanken an die Demonstranten in Kairo und Alexandria tue, kann man schon als Beten bezeichnen.

Foto: Al Jazeera English, Flickr Creative Commons

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