Das verfassungspolitisch spannendste Land der Welt ist zurzeit, neben Ungarn, zweifellos die Türkei. Dort kann man live und in Farbe studieren, was ein „constitutional moment“ ist – was passiert, wenn sich in einem Land die verfassungspolitischen Koordinaten so verschieben, dass hinterher nichts mehr ist wie vorher.
Bruce Ackerman hatte, als er das Konzept des „constitutional moment“ entwickelte, die Roosevelt-Administration vor Augen: die beispiellose Erweiterung der Machtfülle des US-amerikanischen Präsidenten, durchgesetzt von Franklin D. Roosevelt während der Wirtschaftskrise der 30er Jahre. Durchgesetzt auch und vor allem gegen den Widerstand eines konservativ besetzten Supreme Court, der erst gebrochen werden konnte, als Roosevelt damit drohte, das Gericht mit Richtern seiner Wahl aufzustocken und so die Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten zu verändern.
Was seit 2007 in der Türkei passiert, ist mit diesem Konzept perfekt beschrieben. Nicht nur wegen der frappanten Parallelen zu der Roosevelt-Episode, vom präsidialen Machtanspruch über den Konflikt mit dem Verfassungsgericht bis hin zum „court-packing scheme“ als präsidialem Druckmittel, um den Widerstand der Justiz zu brechen.
Sondern auch, weil es zu solchen „constitutional moments“ dazuzugehören scheint, dass man mit seinen gesunden, liberalen verfassungspolitischen Instinkten offenbar nicht weit kommt. Dass Roosevelt der good guy und seine Supreme-Court-Widersacher die bad guys waren, war aus Sicht des Jahres 1936 keineswegs ausgemacht. Wäre Roosevelt weniger erfolgreich gewesen, wer weiß, wie wir heute über den New Deal denken und reden würden.
Good guy, bad guy
Normalerweise ist das Verfassungsgericht der good guy und der Präsident der bad guy: Die Richter hüten die Verfassung und die Rechte der Bürger vor den Machtambitionen der Exekutive, mit nichts als dem Recht an ihrer Seite im Kampf gegen eine Macht, die über Gewehre verfügt.
In der Türkei ist das Verfassungsgericht 1961 installiert worden. Es hatte einen Militärputsch gegeben, in dessen Folge die Gründungsverfassung von 1924 durch eine neue Verfassung ersetzt wurde. Die Verfassung von 1924 hatte in Art. 4 festgelegt, dass die „alleinige und wirkliche Repräsentantin der Nation“ das Parlament sei. Das änderte die Verfassung von 1961. Fortan hieß es: „Die Nation übt ihre Souveränität durch die zuständigen Organe gemäß den in der Verfassung festgesetzten Prinzipien aus.“ Darunter auch das neu eingeführte Verfassungsgericht.
1982 gab es, nach einem erneuten Militärputsch, wieder eine neue Verfassung, und wieder einen neuen Artikel 4: Wieder ging es darum, die Möglichkeiten der Volksvertretung, das Recht zu ändern, einzuschränken. Jetzt besagt Art. 4, dass die vorangehenden drei Artikel, die die Grundlagen der türkischen Republik beschreiben, unabänderlich sind – eine Art türkische Ewigkeitsklausel.
Diese Grundlagen haben es freilich in sich: Zu ihnen gehören laut Art. 2 der Laizismus, der „Nationalismus Atatürks“ und die „in der Präambel verkündeten Grundprinzipien“. In der Präambel wiederum steht der wunderschöne Satz,
daß keine Meinung und Ansicht gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird und heilige religiöse Gefühle, wie es das Prinzip des Laizismus erfordert, auf keine Weise mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates werden vermischt werden.
Seit 2001 ist die Formulierung „Meinung und Ansicht“ immerhin durch „Aktivitäten“ ersetzt worden.
Eins wird klar: Dies ist keine Verfassung, die die Bürger vor dem Staat schützt, sondern eine Verfassung, die den Staat vor den Bürgern schützt.
Nicht um jede Verfassung ist es schade
Entsprechend ist auch der Schutzauftrag des Verfassungsgerichts ganz anders beschaffen. Zumal es in der Türkei auch gar nicht unbedingt der demokratisch gewählte Regierungschef ist, der über Gewehre verfügt.
Im letzten Jahr hat die muslimisch-konservative AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan eine Reihe von Verfassungsänderungen durchgesetzt, und dazu gehört auch eine Umgestaltung des Verfassungsgerichts. Das Ausführungsgesetz dazu ist vor wenigen Tagen in Kraft getreten (so komme ich überhaupt auf das Thema zum jetzigen Zeitpunkt). Jetzt gibt es in der Türkei eine Verfassungsbeschwerde, und das Verfassungsgericht hat auch das Recht, Urteile der anderen obersten Gerichte auf die Achtung der Grundrechte hin zu überprüfen. Verfassungsänderungen darf es nur noch daraufhin überprüfen, ob die verfahrensrechtlichen Anforderungen eingehalten wurden.
Das soll auch dem Missstand abhelfen, dass alles, was in der Türkei menschenrechtlich schief läuft (und das ist nicht wenig), in Straßburg landet und dem ohnehin rettungslos überlasteten EGMR die Regale verstopft.
Es gab in den letzten Wochen viel Aufregung über die flammende Rede einer türkischen Richterin, die Erdoğan vorwarf, mit seinen Justizreformen Rechtsstaat und Demokratie unterwandern zu wollen. Alles, was die verfassungspolitischen Instinkte eines guten Liberalen in Wallung bringt, war darin enthalten.
Ich will mir kein Urteil anmaßen, ob die Frau Recht hat oder nicht. Vielleicht führt Erdoğan tatsächlich Übles im Schilde und will einen islamistischen Gottesstaat in der Türkei etablieren. Es gibt so viele Verschwörungstheorien in der Türkei, und so viele davon scheinen sogar zumindest teilweise zu stimmen, dass ich mich hüten werde, so zu tun, als wüsste ich Bescheid.
Aber eines kann man wohl sagen: Selbst wenn das stimmt – die Verfassung von 1982, und mit ihr die ihren Werten verpflichtete Justiz, scheint mir nicht etwas zu sein, worum man trauern müsste.
Laizismus und Unfreiheit
Zumindest ein Teil der Verwirrung rührt daher, dass es um den Laizismus geht: Den sind wir Liberalen gewohnt, als etwas Gutes zu betrachten. Uns Europäern sind die Zeiten, da der politische Katholizismus mächtig war und im Namen Christi von Staats wegen unterdrückt, missbraucht, misshandelt und gelogen wurde, noch in heißer Erinnerung.
Im Fall der Türkei hat der Laizismus aber nichts mit Freiheit zu tun, nichts mit aufgeklärtem und angstfreien Denken und Reden. Der Laizismus steht in der Verfassung der Türkei in etwa dort, wo in der spanischen Verfassung der Franco-Ära der Katholizismus stand.
Das ist der Unterschied zu Ungarn: Im einen Fall soll eine dysfunktionale, antipluralistische, antidemokratische Verfassung durch etwas Neues ersetzt werden; man weiß noch nicht was es ist, vielleicht geht es schief. Im anderen Fall soll eine funktionierende, pluralistische, demokratische Verfassung durch etwas Neues ersetzt werden; man weiß auch noch nicht, was es ist, vielleicht wahrscheinlich geht es schief.
Da ist mir Ersteres wahrhaftig lieber.
Foto: Paul Searle, Flickr Creative Commons
