Letzten Sommer war ich in Island, um mir anzuschauen, wie dort die Bürger an der professionellen Politik vorbei eine neue Verfassung schreiben. Von Island nach Irland ist nicht nur phonetisch der Weg ein kurzer: Noch eine Insel im Nordatlantik, die von der Finanzkrise überdurchschnittlich grob durchgebeutelt wurde.
Doch da hören die Gemeinsamkeiten offenbar nicht auf. Ende Februar hat die irische Regierung angekündigt, die Verfassung – sie wird in diesem Jahr 75 Jahre alt – reformieren zu wollen. Und die Arbeit soll eine „Constitutional Convention“ tun, der zu zwei Dritteln aus ganz normalen, dem Wählerverzeichnis entnommenen Bürgern bestehen soll.
Die Bezeichnung Constitutional Convention, um gleich mal Wasser in den Wein zu gießen, grenzt aber an Etikettenschwindel. Dieses Gremium hat mitnichten die Aufgabe, eine neue Verfassung zu entwerfen. Es soll binnen eines Jahres Berichte zu einer Reihe von Reformthemen abliefern, die die Regierung vorgibt.
Dazu gehört eine Reform des Wahlrechts: In Irland wird nach dem Single-Transferable-Vote-System gewählt, eine Variante des Mehrheitswahlrechts ohne die verzerrenden Effekte, wie sie das britische System auszeichnet, und eigentlich nicht die schlechteste aller Möglichkeiten. Außerdem steht auf der Agenda eine Verkürzung der 7-jährigen Amtszeit des Präsidenten, die Senkung des Wahlalters auf 17, mehr Frauenrechte, die Homo-Ehe und die Abschaffung des Blasphemieverbots in der Verfassung.
Der letzte Punkt ist interessant, denn die irische Verfassung von 1937 liest sich tatsächlich streckenweise ziemlich talibanesk: So geht in Irland beispielsweise laut Art. 6 I alle Staatsgewalt nicht einfach so, sondern „nächst Gott“ vom Volke aus. Der Präsident, die Staatsräte und alle Richter müssen ihren Amtseid „in Gegenwart des allmächtigen Gottes“ schwören. Was insofern nur konsequent ist, als laut Art. 44 der „Staat anerkennt, daß dem allmächtigen Gotte die Huldigung öffentlicher Verehrung gebührt“. Von der Präambel, die die „allerheiligste Dreifaltigkeit“ und „unseren göttlichen Herrn Jesus Christus“ anruft, ganz zu schweigen. Für eine moderne, säkulare und pluralistische Gesellschaft wie die irische gibt es da in der Tat allerhand zu modernisieren, scheint mir.
Sehr lieb, sehr adrett
Diese Themen sind vorgegeben, aber das Gremium soll frei sein, weitere Themen anzusprechen. Davon hat in Island der Verfassungsrat bekanntlich in einer Weise Gebrauch gemacht, die darauf hinauslief, dass sie eine komplette neue Verfassung entwarfen. Aber deren Mitglieder waren andererseits auch durch eine direkte Wahl legitimiert.
Ich hasse es, zynisch zu werden, aber ich kann mir nicht helfen. Meine Vermutung: Das wird eine sehr liebe, sehr adrette, wunderbare Alibi-Veranstaltung, wo ein Haufen rechtschaffener Bürgerinnen und Bürger übermäßig viel Zeit damit verplempern werden, wohlklingende Papiere zu verfassen, die keinen Menschen interessieren.
Interessant ist der Vorgang eher als Zeichen, wie tief die konstitutionelle Verunsicherung in vielen Staaten Europas, gerade in den von der Finanzkrise besonders hart betroffenen, geht.
Irland hat ohnehin schon allerhand vor mit seiner Verfassung: Die zweite Kammer soll womöglich abgeschafft werden, und dann ist da natürlich der Euro-Fiskalpakt, der ebenfalls per Verfassungsänderung konstitutionell abgesichert werden soll. Am 31. Mai werden die Iren darüber abstimmen.
Foto: Judith Doyle, Flickr Creative Commons
