Der Besuch von Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle in Berlin hat ja einigen Wirbel verursacht. Wenn ich es recht überblicke, war das Presseecho überwiegend negativ. Der Journalist der “Berliner Zeitung” und “Frankfurter Rundschau”, der den Gerichtspräsidenten anläßlich seiner Auftritte in Berlin als “Meister der Öffentlichkeitsarbeit” rühmte, scheint ziemlich allein dazustehen. Kommentatoren auf beiden Seiten des Meinungsspektrums, angefangen von der „Zeit“ und der „Süddeutschen Zeitung“ bis zur „Welt“ und dem “Bayernkurier”, waren sich weitgehend einig, dass die Öffentlichkeitsarbeit des Gerichtspräsidenten vor der Bundespressekonferenz in der Hauptstadt unangemessen, zumindest unklug gewesen sei.
Dabei ging es weniger um die Inhalte des Hintergrundgesprächs, für das ja eigentlich Vertraulichkeit vereinbart worden war; was über die Äußerungen des Gerichtspräsidenten zum bevorstehenden Verfahren zum NPD-Verbot sowie zum Thema Gleichstellung homosexueller Partnerschaften nach außen drang, klang jedenfalls ziemlich allgemein. Aber es geht um Prinzip. Sollte sich der Präsident des höchsten Gerichts, das im beschaulichen Karlsruhe von einer Aura der Politikferne umweht wird, auf die politische Bühne in Berlin begeben?
Die Frage so zu stellen, erweckt den Eindruck, als sei die Berlinreise des Gerichtspräsidenten ein ganz außerordentlicher Vorgang. Das ist eigentlich schon merkwürdig, denn Voßkuhle reist, ebenso wie andere Mitglieder des Verfassungsgerichts und anderer oberster Gerichte, häufiger zu Gesprächen, Vorträgen und Diskussionsrunden – auch in die Hauptstadt und gelegentlich auch, um dort mit Journalisten zu sprechen. Die negativen Presseberichte über die Berlinreise des Gerichtspräsidenten haben daran nichts geändert; Verfassungsrichter und andere Mitglieder oberster Gerichte kommen weiterhin zu Tagungen, Podiums- und Hintergrundgesprächen nach Berlin. Dass Verfassungsrichter nicht nur durch ihre Urteile sprechen, wird ja auch von jenen Kommentatoren anerkannt, die Voßkuhles Berlinausflug kritisieren. Verheddert man sich dann aber nicht in realitätsferner Symbolik mit dem Hinweis, Verfassungsrichter sollten nicht vergessen, dass sie in Karlsruhe, nicht in Berlin daheim seien?
Aus den politischen Parteien hört man Mahnungen zu richterlicher Zurückhaltung bezeichnenderweise vor allem dann, wenn es um Verfahren geht, in denen die jeweilige Partei in Karlsruhe als Verlierer dasstehen könnte – wie jetzt im Streit über die Ausdehung des Ehegattensplittings auf gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften. Innerhalb der Union ist man sich allerdings nicht nur in der Sache uneins, soweit es um die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften geht, gestritten wird auch darüber, ob nun besondere Schweigsamkeit oder doch mehr Auskunftsbereitschaft des Verfassungsgerichts angezeigt sei. Während Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich gegenüber dem “Spiegel” hervorhob, Richter sprächen bekanntlich durch ihre Urteile, wünschte sich Unionsfraktionschef Volker Kauder wenige Seiten weiter, Gerichtspräsident Voßkuhle möge auch mit den Politikern in den Fraktionen sprechen, wenn er schon Hintergrundgespräche in Berlin führe.
Dass man sich in Karlsruhe und Berlin Gedanken über die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsgerichts macht, hat zweifellos mit der Dauerkommunikation durch posten, simsen, mailen und twittern zu tun. Wie soll sich das Verfassungsgericht da positionieren? Vor dem Hintergrund der kontroversen Öffentlichkeitsarbeit von Gerichtspräsident Voßkuhle scheint es jedenfalls lohnenswert, die Debatte über die “gesellschaftliche Funktionalität” von “Recht, Macht, Medien” (Gerd Roelleke) wiederaufzunehmen. Eine wichtige Rolle dürfte dabei auch die europäische Integration spielen. Voßkuhle hat mehrfach deutlich gemacht, dass das Gericht besonders intensiv und gründlich erklären und aufklären müsse, wenn es um den europäischen Einigungsprozess geht. Regelmäßig verweist er dann auf eine verzerrende Kurzversion des Lissabon-Urteils, die damals in Brüssel in Umlauf gebracht worden sei und weit darüber hinaus erhebliche Missverständnisse verursacht habe.
Aber wie offensiv oder präventiv darf die Öffentlichkeitsarbeit eines Gerichts sein, dem als Wächter über die Einhaltung des Grundgesetzes eine responsive Aufgabe zukommt? Und wie offensiv oder präventiv dürfen Politik oder Medien reagieren, wenn das Gericht oder seine Mitglieder vermeintlich ihren Kontrollauftrag überdehnen?
Die aggressive Attacke des “Spiegel” gegen Gerichtspräsident Voßkuhle (Merkels Chef, Nr 10/2013) wird hoffentlich nicht den künftigen Weg vorzeichnen. Die Bundespressekonferenz hatte das Magazin ja in einem offenenen Brief gerügt, da durch die Berichterstattung über Voßkuhles Hintergrundgespräch mit den Hauptstadt-Journalisten die Regeln der Vertraulicheit verletzt worden seien. Zu der Behauptung des “Spiegel”, dass ein Verfassungsgerichtspräsident “nie zuvor” mit einem Auftritt in der Bundespressekonferenz “die große Bühne gesucht” habe, wird in dem Brief klar gestellt, dass die Initiative für das Hintergrundgespräch nicht von Voßkuhle ausgegangen sei, sondern die Bundespressekonferenz vor Monaten eine Einladung nach Karlsruhe geschickt habe. Tatsachenverzerrungen wie diese sind in dem Beitrag kein Einzelfall. Am Ende steht der Präsident des Bundesverfassungsgerichts beinahe als richterlicher Ursupator da, der hochfahrend und selbstgefällig politisches Terrain zu erobern sucht.
Wie perfide manipuliert wurde, um diesen Eindruck zu erwecken, zeigt auch die Schlusspassage. So schließt der “Spiegel”-Artikel mit den Worten: “Dann ließ er (Voßkuhle) – offensichtlich zufrieden mit sich und der Welt – seinen Tag im Zentrum der Macht im Margaux ausklingen, einem der teuereren Nouvelle-Cuisine-Restaurants im Regierungsviertel – unweit von Kanzleramt und Reichstag.” Wiederum war der Gerichtspräsident jedoch nicht auf eigene Initiative dort, wie die Berichterstatter des “Spiegel” insinuieren. Vielmehr gehörte Voßkuhle zu den Mitwirkenden einer Podiumsdiskussion, die auf Einladung der Bertelsmann-Stiftung in Berlin über die Rolle der Parlamente in der Europäischen Union sprachen. Der Gedankenaustausch wurde dann beim Essen im “Margaux” fortgesetzt – ein Ausklang, wie er nach solchen Veranstaltungen durchaus üblich ist. Voßkuhle allerdings musste schon nach kurzer Zeit zum Flughafen aufbrechen, von einem genußvollen Gourmetfinale, wie es der Spiegel-Bericht nahelegt, konnte also nicht die Rede sein.
Fast noch mehr als die Deformierungen und Diffamierungen, auf denen die Spiegel-Attacke gegen den Gerichtspräsidenten aufbaute, irritieren die gehässigen und empörten Leserbriefe, die das Magazin dann eine Woche später abdruckte. Die Berliner “Ein-Mann-Show” Voßkuhles, der “eitel wie ein Pfau nach Selbstdarstellung gierte”, trage “Züge eines Staatsstreichs”. “Zurück nach Karlsruhe, aber dalli!” Selbst wenn sich die Verfassungsrichter auf ihre gesetzlich verankerten, ureigenen Befugnisse beschränken und Parlamentsgesetze für nichtig zu erklären, geht das manchen Lesern zu weit. Man müsse sich fragen, ob das “noch mit dem Demokratiegedanken” vereinbar sei.
Wie passen diese Stimmen zu den überragenden Zustimmungswerten, die das Bundesverfassungsgericht im starken Kontrast zu Parlament und Regierung für sich verbuchen kann? Deuten die Leserbriefe etwa auf einen Stimmungsumschwung, gar auf eine Legitimationskrise des Gerichts hin? Oder wird hier schon wieder manipuliert? Fährt der “Spiegel” mit den Leserbriefen Batallione aus dem Volk gegen das Gericht und seinen Präsidenten auf, um die Unzulänglichkeiten seiner eigenen Berichterstattung zu kaschieren?