11. September 2013

Maximilian Steinbeis

Verfassungskult per Infografik

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. So lautet eine alte, bis zur Abgedroschenheit wiederholte Zeitungsmacherweisheit. Misstrauisch sollte einen dabei schon die Tatsache stimmen, dass einem so leicht kein Bild einfällt, das diese Weisheit besser transportieren könnte als diese sieben Worte, aber gut: es ist schon etwas dran. Wer jemals eine Straßenkarte benutzt hat, weiß deren Überlegenheit gegenüber jeder noch so präzisen Wegbeschreibung zu schätzen.

Das Buch „Die Verfassung verstehen“, aus der Diplomarbeit eines jungen Grafikdesigners entstanden und von einem kleinen Typografie-Fachverlag mit viel Enthusiasmus und handwerklichem Können herausgebracht, unternimmt den Versuch, diese Weisheit auf die Welt der Verfassungsdidaktik zu übertragen. In 17 teils sehr elaborierten Infografiken erhebt Autor Mike Hofmaier laut Vorwort den (wiederum bildlich formulierten) Anspruch, zwischen der „abstrakten Gesetzessprache“ des Grundgesetzes und dem fachlich nicht vorgebildeten Leser eine „Brücke“ zu bauen.

Infografiken haben zumeist dort ihren Platz, wo es um Quantitatives geht – um Größen- und Mengenverhältnisse, um Zahlen. Hier liegt auch die Stärke dieses Buches: Dass etwa das Grundgesetz fast drei mal so viele Wörter umfasst wie der Verfassung der USA und mehr als vier mal so viele wie die Japans, das ist auch dem Kenner der Materie nicht unbedingt geläufig, und wenn doch, so vermittelt Hofmaiers elegant gestaltetes Balkendiagramm diese Erkenntnis auf stärkere und eindrücklichere Weise als in verbalisierter Form.

Das Gleiche gilt für die Visualisierung der Änderungsgeschichte des Grundgesetzes. Ein schlichtes schwarz-rotes Tortendiagramm zeigt, dass vom ursprünglichen Verfassungswortlaut von 1949 gar nicht mehr so viel übrig ist: Mehr als die Hälfte des Textes ist jüngeren Datums. Auch mit Zeitstrahlen und farbcodierter Textdarstellung visualisiert Hofmaier allerhand Wissenswertes über Geschichte und interne Verweisungszusammenhänge des Grundgesetzes. Hier sagt ein Bild tatsächlich mehr 1000 Worte.

Nur, was sagt uns das, was es sagt? Was wissen wir, wenn wir wissen, wie viele Wörter die einzelnen Abschnitte des Grundgesetzes umfassen? Was erfahren wir, wenn wir auf einen Blick sehen, welche Artikel auf welche anderen Artikel Verweise enthalten?

Bilder veranschaulichen. Man kann, was sie zeigen, betrachten, als stünde man wirklich davor. Wer ein Bild betrachtet, denkt sich: so ist das also (und wird dabei entsprechend anfällig, manipuliert zu werden).

Das Grundgesetz ist aber nicht etwas, das einfach da ist. Es ist keine abbildbare Tatsache, sondern ein normativer, ein politischer Text, änderbar (größtenteils) und insoweit prinzipiell der demokratischen Willensbildung unterworfen wie jedes andere Gesetz auch. Was sich an ihm quantifizieren, faktifizieren und abbilden lässt, hat mit dem Grundgesetz als Verfassung des bundesrepublikanischen Gemeinwesens so wenig zu tun wie die Seitenzahl eines Romans mit Literatur.

Ist das nicht ein zu hartes Urteil? Verdient nicht der glühende Verfassungspatriotismus, wie ihn Autor und Verlag in ihren Vorworten zum Ausdruck bringen, Respekt? Verweisen sie nicht zu Recht auf „die Länder des Arabischen Frühlungs, die Situation in Syrien“, wo die Menschen von Gleichheit, Meinungsfreiheit und Volkssouveränität träumen? Ist es nicht aller Ehren wert, den Bundesbürgern einen visueller Zugang zu dem Text zu legen, der ihnen all dies garantiert?

Natürlich ist es das. Und doch hinterlässt gerade diese grenzenlos affirmative, an Verfassungsfrömmelei grenzende Haltung, die dieses Buch zum Grundgesetz einnimmt, einen unangenehmen Nachgeschmack. Sie liegt zwar völlig im Mainstream bundesrepublikanischer politischer Bildung, und es überrascht auch keineswegs, dass sich Politiker wie Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger und FDP-Fraktionschef Brüderle begeistert bereitfanden, in diesem Sinne ihre Prominenz dem Verlagsmarketing zur Verfügung zu stellen. Aber ob das im Jahr 2013 noch der richtige Weg ist, den Deutschen konstitutionell Orientierung zu geben, kann man mit gutem Grund bezweifeln.

Verfassungsrecht ist immer politisch, und heute ist es das mehr denn je. Demokratie, Freiheitsrechte, Volkssouveränität – all das sind in diesen Zeiten der Eurokrise und der NSA-Affäre hoch problematische Begriffe. Verfassungsrecht sollte auch und gerade für Nichtjuristen kein sakrales Objekt verehrender Anschauung sein, sondern ein Gegenstand kritischer und aufgeklärter Auseinandersetzung mit den normativen Grundlagen unseres politischen Zusammenlebens.

Diese Rezension ist heute in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erschienen.

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