27. September 2013

Sophie Schönberger

Macht die Wahl das Recht verfassungswidrig?

Schon die von Maximilian Steinbeis gestellte Frage offenbart den Kern des Problems: Wenn es so wäre, dass am Sonntag die Fünfprozenthürde verfassungswidrig geworden ist, was genau hat dann zu dieser Verfassungswidrigkeit über Nacht geführt? Kann eine Wahl das Wahlrecht verfassungswidrig machen? Oder gar der Wähler selbst?

Ein wesentliches Argument jedenfalls, das verfassungsrechtlich stets für die Zulässigkeit der Fünfprozentklausel gestritten hat, erweist sich am konkreten Fall des neu gewählten Bundestages erneut als tatsächlich obsolet: Eine Mehrheits- und damit Regierungsbildung wäre unter den gegebenen Umständen – genau wie auch bei den vorangegangenen Bundestagswahlen – jedenfalls nicht schwieriger, wenn statt einer Fünf- etwa eine Dreiprozenthürde gelten würde. Zwar hätte es auch dann für eine schwarz-gelbe Mehrheit nicht gereicht, die jetzt politisch zumindest theoretischen Optionen der Großen Koalition sowie eines schwarz-grünen Bündnisses hätten sich jedoch in gleicher Weise auf eine parlamentarische Mehrheit stützen können.

Festhalten lässt sich auch, dass sich am konkreten Wahlergebnis in bisher ungeahntem Ausmaß das Spannungsverhältnis zwischen Funktionsfähigkeit des Parlaments und dem offenbart, was Maximilian Steinbeis an dieser Stelle „Repräsentativität der Wahl“ genannt hat und das Bundesverfassungsgericht „Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes“ bezeichnet. Wenn mehr als fünfzehn Prozent der Stimmen für die Sitzverteilung im Bundestag unberücksichtigt bleiben, entstehen erhebliche Zweifel daran, ob ein solcher Maßstab noch erfüllt ist. Dies lässt sich auch anders formulieren: Stellt man hinsichtlich der Wahlrechtsgleichheit nicht auf den individuellen Wähler sondern auf die Qualität der Wahl als ganzer ab, so wird die Beeinträchtigung um so intensiver, je mehr Zweitstimmen nicht berücksichtigt und je größere Wählergruppen damit – in Termini des Gleichheitssatzes – ungleich behandelt werden. Umso schwerer muss damit automatisch ins Gewicht fallen, was man zur Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung heranführt.

Nur am Rande sei bemerkt, dass im konkreten Fall auch eine weitere Problematik des aktuellen Wahlergebnisses durch die Fünfprozenthürde erst ermöglicht wird: die verfassungsrechtlich verankerte parlamentarische Oppositionsfunktion droht praktisch verloren zu gehen. Sollte sich die – im Moment wohl wahrscheinlichste – Option einer Großen Koalition realisieren, würden die Regierungsfraktionen über eine Mehrheit von fast 80 % der Sitze verfügen. Wesentliche verfassungsrechtliche Kontrollmechanismen, etwa einen Untersuchungsausschuss einsetzen oder eine abstrakte Normenkontrolle beantragen zu können, würden der Opposition somit schon rein rechnerisch nicht mehr zur Verfügung stehen, weil sie das notwendige Quorum von 25 % der Abgeordneten nie erreichen würde. Da im Fall der Großen Koalition zudem mindestens ein Koalitionspartner auch an jeder Landesregierung beteiligt wäre, würde zudem die sonst jedenfalls in Hinblick auf die abstrakte Normenkontrolle bestehende Option der „föderalen Opposition“ wegfallen. Man könnte daran denken, dies als strukturelles Merkmal der Fünfprozentklausel unter den gegebenen politischen Bedingungen zu begreifen und bei der Frage nach ihrer Rechtfertigung zu berücksichtigen.

Nun ist es aber so, dass die Möglichkeit, dass es zu einem solchen Ergebnis kam, im Wahlrecht immer schon angelegt war. Ist es also tatsächlich das konkrete Wahlergebnis, das ihre rechtlichen Grundlagen verfassungswidrig macht? Würde die Fünfprozenthürde also etwa wieder verfassungsgemäß, wenn sich bei der nächsten Wahl die Stimmen wieder anders verteilten? Die Frage führt auf ein Grundproblem des geltenden Wahlrechts zurück: Es geht von tatsächlichen Verhaltenserwartungen aus, deren Erfüllung es selbst nicht garantieren kann.

Deutlich wurde dies bisher vor allen Dingen im Bereich der Überhangmandate. Insofern legten der Gesetzgeber und (eingeschränkt) auch das Bundesverfassungsgericht bisher ihren Überlegungen stets stillschweigend zugrunde, dass die Wähler von der Möglichkeit des Stimmensplittings nicht in übermäßiger, einseitiger Weise Gebrauch machen, da dies die Zahl der Überhangmandate in die Höhe triebe. Diese Vermutung hat auch unter Geltung des neuen Wahlrechts Bestand, treibt ein vermehrtes Stimmensplitting mittlerweile doch zwar nicht mehr auf Kosten der Wahlrechtsgleichheit die Zahl der Überhangmandate in die Höhe, wohl aber die der Sitze des Bundestages durch Ausgleichsmandate. In ähnlicher Form scheint die dem Wahlrecht auch die unausgesprochene Prämisse zugrunde zu liegen, dass nicht allzu viele Wähler ihre Stimmen an „Kleinstparteien“ vergeben werden und damit für die Sitzverteilung im Bundestag verloren gehen.

Anders als der freiheitliche Staat, der nach dem vielzitierten Diktum Böckenfördes von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, kämpft das Wahlrecht, das die Einhaltung seiner eigenen Erwartungen ebenfalls nicht zu garantieren vermag, dabei aber mit einer Paradoxie: Denn während der Staat auf das Vorliegen seiner Voraussetzungen jedenfalls positiv einwirken kann, ist dem Wahlrecht ein solcher Weg nicht nur verwehrt. Vielmehr ist es vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Bindungen gerade Aufgabe des einfachen Wahlrechts, die Freiheit der Wähler zu eben dieser Prämissenverschiebung zu garantieren. Wenn es in den frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts insofern heißt, die Fünfprozentklausel rechtfertige sich vor allem durch die „Gefahr der Parteizersplitterung“, so ist dies jedenfalls missverständlich. Die Freiheit der Neugründung von Parteien ist in unbegrenztem Umfang verfassungsrechtlich garantiert, auch wenn dadurch eine „Zersplitterung“ der Parteienlandschaft droht, genauso wie es die Freiheit der Wahl in Hinblick auf jede antretende Partei ist. Das Wahlrecht darf insofern dazu missbraucht werden, indirekt das Wahlverhalten zu steuern, Parteineugründungen zu erschweren und die Wähler an etablierte Parteien zu binden. Wenn sich im Dienste stabiler Mehrheitsverhältnisse der Wählerwille dem Wahlsystem anpassen soll, nicht umgekehrt, sind die Voraussetzungen einer freien Wahl nicht mehr erfüllt.

Wie aber soll das Recht nun damit umgehen, wenn der Wähler die impliziten Verhaltenserwartungen, die es an ihn anlegt, nicht (mehr) erfüllt? Das Grundgesetz kennt Lösungen für den Fall, wenn politische Akteure bestimmte Verhaltenserwartungen – etwa die Bildung einer stabilen Regierung – nicht erfüllen, nicht jedoch für den Fall, dass der Wähler bestimmte Erwartungen enttäuscht. Solche Mechanismen fehlen aus guten Grund: Denn solange die Grundvoraussetzungen des freiheitlichen Staates vorliegen, erfüllt der Wähler mit seiner Stimmabgabe stets die verfassungsrechtlichen Erwartungen. Es ist gerade Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, ein einfaches Wahlrecht als Instrumentarium bereitzustellen,  mit dem diese Stimmabgabe in verfassungskonformer Weise in ein funktionsfähiges Parlament abgebildet werden kann.

In diesem Sinne löst auch das Bundesverfassungsgericht, so scheint es, dieses Problem in seiner jüngeren Entscheidung zur Sperrklausel bei den Europawahlen über prozedurale Pflichten des Gesetzgebers, dem insofern eine kontinuierliche Prüfpflicht hinsichtlich tatsächlicher Entwicklungen zukommen soll, welche die verfassungsrechtliche Beurteilung der des Wahlrechts berühren. Durch die eine derartige Betonung des Verfahrens werden jedoch letztlich nur die materiellen Probleme kaschiert. Denn wenn diese Verfahrenspflichten missachtet werden, wird dadurch das Wahlrecht ebenso wenig verfassungswidrig wie durch den Eintritt eines bestimmten Wahlergebnisses. Das wird es erst, wenn bestimmte verfassungswidrige Folgen mit – je nachdem, wie strenge Maßstäbe man hier anlegen möchte –hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreten können.

Dass gerade in jüngster Zeit immer öfter die Verfassungsmäßigkeit des Bundestagswahlrechts infrage gestellt wird, lässt sich insofern vor allem auch darauf zurückführen, dass in der Wahlgesetzgebung – und leider zum Teil auch in der Rechtsprechung – oft mit  relativ platten, aus einer Mischung von historischen Erfahrungen und Bauchgefühl gebildeten Argumentationstopoi wie demjenigen der „Parteienzersplitterung“ gearbeitet wird, die weder ihr eigenen logischen Grenzen offenlegen, noch hinreichend mit nachbarwissenschaftlicher Expertise über die Wahrscheinlichkeit der Erreichung dieser Grenzen unterfüttert sind.

Zumindest einen Schritt in die Richtung einer Lösung ist das Bundesverfassungsgericht jedoch in seiner letzten Entscheidung zum negativen Stimmgewicht gegangen, in der es gerade nicht mehr einen weichen Prüf- und Änderungsauftrag an den Gesetzgeber formulierte, sondern zur seit Jahrzehnten umstrittenen Frage der Überhangmandate nun in Abkehr von seiner alten Rechtsprechung entschied, dass das Wahlrecht dann verfassungswidrig wird, wenn die Zahl der Überhangmandate die Grenze von 15 überschreitet. So willkürlich und dezisionistisch die konkret genannte Zahl dabei erscheint, so bemerkenswert ist doch jedenfalls das neu gewonnene Bewusstsein, dass der Gesetzgeber bestimmte, quantifizierbare reale Auswirkungen des Wahlverhaltens innerhalb des Wahlsystems antizipieren muss, um die Verfassungsmäßigkeit des Wahlrechts zu gewährleisten. Wenn das Wahlrecht einen Ausgleich zwischen verschiedenen verfassungsrechtlichen Belangen schaffen soll, so muss es eben auch die Verschiebungen innerhalb der Gewichtung dieser Belange berücksichtigen, die sich durch ein bestimmtes Wählerverhalten ergeben können.

Wenn es also möglich ist, das Wählerverhalten im Wahlrecht derart zu berücksichtigen, dass eine absolute Obergrenze von ausgleichslosen Überhangmandaten festgelegt werden kann, wieso soll es dann dem Gesetzgeber nicht möglich sein, eine Sperrklausel derart auszugestalten, dass nur ein bestimmtes Quorum von Zweitstimmen bei der Sitzverteilung unberücksichtigt bleiben darf? Will man die Fünfprozenthürde nicht vollständig aufgeben, wäre es insofern etwa möglich, sie anzuwenden, solange nicht mehr als eine noch festzulegende Prozentzahl von Stimmen durch sie unberücksichtigt bleibt. Wird dieser Wert erreicht, könnte sie sich automatisch auf eine Dreiprozentklausel absenken. Solche Eventualregelungen sind dem Wahlrecht keineswegs fremd. So sieht etwa das brandenburgische Landtagswahlrecht vor, dass Ausgleichsmandate erst dann vergeben werden, wenn für eine Partei mehr als zwei Überhangmandate anfallen – in diesem Fall erfolgt jedoch ein vollständiger Ausgleich.

Im Ergebnis halte ich unter den derzeitigen politischen Bedingungen, die in der Bundestagswahl ihren Ausdruck gefunden haben, die Fünfprozenthürde in ihrer jetzigen Form daher für verfassungsrechtlich kaum mehr zu rechtfertigen. Das Problem liegt jedoch ganz deutlich im Recht, nicht in der Wahl.

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