In der Schweiz kann man derzeit den einzigartigen Fall beobachten, dass eine Regierung ihr Volk daran zu hindern versucht, die eigenen verfassungs- und völkerrechtlichen Bindungen zu vergewaltigen.
Gestern hat der Schweizer Bundesrat entschieden, die so genannte „Durchsetzungsinitiative“ nur in redigierter Form dem Parlament vorzulegen. Das ist eine Initiative der rechtspopulistischen SVP für einen Volksentscheid, der die berüchtigte „Ausschaffungsinitiative“ von 2010 noch einmal um eine Zehnerpotenz krasser machen soll.
Es geht dabei darum, dass Ausländer, die mit dem Strafrecht in Konflikt geraten sind, abgeschoben werden müssen, und zwar ohne viel Federlesen und Verhältnismäßigkeitserwägungen und Rechtsschutz und was der spießigen Bedenkenträgereien mehr sind. Das will das Schweizervolk ausweislich des Abstimmungsergebnisses 2010 offenbar so haben, und die SVP beugt sich hingebungsvoll ihrer Pflicht, ihm seinen vermeintlichen Willen zu verschaffen.
Im Wege steht diesem Willen aber der Umstand, dass das Schweizervolk völkerrechtlich nun mal leider nicht alles tun darf, was es gern tun möchte. Daran sehen sich Regierung und Justiz gebunden, und deshalb ist es in der ausländerrechtlichen Realität immer noch nicht so, wie die SVP und die von ihr mobilisierte Mehrheit von 2010 es wohl gerne hätten.
Deshalb jetzt die Durchsetzungsinitiative: Wenn Regierung und Justiz nicht hören wollen, was das Schweizervolk sagt, so die SVP-Logik, muss das Volk eben etwas lauter werden.
Zu den völkerrechtlichen Bindungen, die einer Abschiebung im Wege stehen können, gehört das so genannte zwingende Völkerrecht: Das verbietet Sklaverei, Folter und Genozid und solche Dinge, und deshalb darf man niemanden in ein Land abschieben, in dem ihm dergleichen droht. Wo die Grenzen verlaufen, ist aber umstritten, und deshalb enthält die Initiative folgenden Passus:
Die Bestimmungen über die Landesverweisung und deren Vollzugsmodalitäten gehen dem nicht zwingenden Völkerrecht vor. Als zwingendes Völkerrecht gelten ausschliesslich das Verbot der Folter, des Völkermords, des Angriffskrieges, der Sklaverei sowie das Verbot der Rückschiebung in einen Staat, in dem Tod oder Folter drohen.
Den zweiten Satz dieses Paragraphen hat nun der Schweizer Bundesrat für ungültig erklärt. Und das sorgt jetzt für Aufregung, und zwar weit über die SVP hinaus.
Das liegt zunächst daran, dass es das noch nie gab, dass der Bundesrat zwischen gültigen und ungültigen Teilen einer Initiative unterscheidet. Kann er das überhaupt? Liefe das nicht darauf hinaus, dass die Regierung die Initiative gewissermaßen umschreibt, bevor über sie abgestimmt wird?
Zum anderen sieht sich die Regierung dem Vorwurf ausgesetzt, selber nicht genau sagen zu können, was alles zum zwingenden Völkerrecht dazugehört und was nicht. Wie kommt die Regierung dazu, das Volk daran hindern zu wollen, hier mal für ein bisschen Klarheit zu sorgen?
Das ist aber ja nun gerade der Punkt beim zwingenden Völkerrecht: Das ist kein gesetztes Recht, das seine Geltung aus dem Willen von Gesetzgebern oder Vertragsparteien ableitet, sondern im Gegenteil – das ist das Recht, dem sich dieser Wille unterzuordnen hat. Wo es herkommt, dieses Recht? Ob man das Naturrecht oder anders nennt, jedenfalls kann das, was dieses Recht umfasst, nicht abschließend vertraglich oder gar verfassungsrechtlich geregelt sein.
Deshalb scheint mir der Versuch, in die Verfassung reinzuschreiben, was zwingendes Völkerrecht ist, von vornherein ein Widerspruch in sich. Das wäre so, als würde man dem Vermieter erlauben, einseitig im Mietvertrag zu definieren, was unter Sittenwidrigkeit zu verstehen ist.
Diesen Teil der Initiative für ungültig zu erklären, scheint mir daher für sich genommen gut verteidigbar. Aber auch der Rest der Initiative hat es in sich. Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat ein Beispiel gebildet, welche Folgen ihr Erfolg in der Abstimmung hätte: Wenn sich etwa eine nicht vorbestrafte Französin bei dem Versuch erwischen ließe, bei einem Antrag auf Sozialhilfe zu mogeln, müsste sie rausgeschmissen werden und dürfte mindestens zehn Jahre lang die Schweiz nicht mehr betreten. Dass sie vielleicht seit Jahrzehnten hier lebt, hier Kinder hat und nicht der leiseste Hinweis darauf existiert, dass sie erneut straffällig wird, all das könnte, nein: dürfte für die Schweizer Behörden keine Rolle spielen.
Von dem Verstoß gegen das Freizügigkeitsabkommen mit der EU ganz zu schweigen. Die Schweiz wäre zum Völkerrechtsbruch gezwungen, und das in einem Moment, da sie sich ohnehin als Opfer völkerrechtswidriger Übergriffe großer Nachbarländer wie Deutschland fühlt.
Ob es der Justiz erneut gelänge, durch Verfassungsauslegung diese eklatanten Folgen in den Griff zu bekommen, kann ich nicht beurteilen. Aber dass es sehr viel schwerer würde, scheint mir auf der Hand zu liegen. Kann man sich noch auf den Vorrang des Völkerrechts nach Art. 190 BV berufen, wenn künftig Art. 197 für den Spezialbereich der Ausweisung und ihres Vollzugs das Gegenteil anordnet?
Man kann nur hoffen, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer rechtzeitig erkennt, dass es nicht in ihrem Interesse liegt, sich über die rechtlichen Bindungen, die das Völkerrecht ihnen und uns allen auferlegt, allzu leichtfertig lustig zu machen.