17. Juni 2014

Thomas Streinz

Forum Shopping zwischen Luxemburg und Straßburg?

Anfang Mai verhandelte der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf dem Luxemburger Kirchberg in voller Besetzung über das Abkommen zum Beitritt der Europäischen Union (EU) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Dem lesenswerten Augenzeugenbericht Stian Øby Johansens zufolge plädierten alle 28 EU-Mitgliedstaaten und die drei beteiligten EU-Institutionen Kommission, Parlament und Rat dafür, das Beitrittsabkommen für unionsrechtskonform zu erklären. Die beitrittskritische Rolle fiel so dem Gerichtshof zu, der mit den Verfahrensbeteiligten einen Fragenkatalog abarbeitete. Hierbei sticht vor allem die Diskussion über die Auswirkungen von Protokoll Nr. 16 zur EMRK ins Auge. Stian Øby Johansen berichtet von „aggressiven Fragen der Richter“ hinsichtlich eines möglichen “forum shopping” zwischen Luxemburg und Straßburg, das die Autonomie der Unionsrechtsordnung gefährden könne. Sollte Daniel Thym entgegen anderen Stimmen doch Recht behalten?

Protokoll Nr. 16 zur EMRK

Die EMRK hat im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche Ergänzungen erfahren. Die wohl wichtigste Änderung war Protokoll Nr. 11, das den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als ständigen Gerichtshof in Straßburg errichtete, an den sich jedermann nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs wenden kann. Zuletzt machte Protokoll Nr. 14 den Weg frei für den Beitritt der EU zur EMRK. Zeitgleich zu den Beitrittsverhandlungen erarbeiteten die EMRK-Vertragsparteien Protokoll Nr. 15 und 16. Letzteres soll nationalen Höchstgerichten die Möglichkeit eröffnen, Gutachtenanfragen an den EGMR zu richten. Obwohl dem Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH nachgebildet, unterscheidet sich das Verfahren nach Protokoll Nr. 16 in wesentlichen Punkten: Es steht ausschließlich Höchstgerichten offen, ist stets freiwillig und das Gutachten des EGMR ist nicht bindend. Das Protokoll tritt in Kraft, sobald es zehn EMRK-Vertragsparteien ratifiziert haben (derzeit haben es elf Staaten unterzeichnet, darunter die EU-Mitgliedstaaten Estland, Finnland, Frankreich, Italien, Litauen, Niederlande, Slowakei und Slowenien). Ob das EGMR-Gutachtenverfahren zur Entlastung beiträgt, weil sich Individualbeschwerden erübrigen, oder sich diese Hoffnung in ihr Gegenteil verkehrt, wird die Zukunft zeigen. Jedenfalls eröffnet es eine neue Dialogoption zwischen den nationalen Höchstgerichten und dem EGMR.

Setzt das Unionsrecht diesem Dialog Grenzen? Unstreitig ist der Vorrang des Vorabentscheidungsverfahrens, das dem EuGH mit Blick auf die Unionsrechtsordnung das letzte Wort garantiert. Die Rechtsprechung des EuGH zur Autonomie des Unionsrechts lässt sich aber auch dahingehend verstehen, dass mitgliedstaatlichen Höchstgerichten Gutachtenanfragen nach Protokoll Nr. 16 in unionsrechtlichen Sachverhalten gänzlich untersagt sind, um sicherzustellen, dass der EuGH der einzige Ansprechpartner für mitgliedstaatliche Gerichte in Unionsrechtsfragen bleibt.

Vorrang des Vorabentscheidungsverfahrens

Das Unionsrecht (Art. 267 Abs. 3 AEUV) steht einem „forum shopping“ zwischen Straßburg und Luxemburg entgegen, indem es letztinstanzliche Gerichte zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum EuGH zwingt, wenn unionsrechtliche Fragen entscheidungserheblich sind. Dieser Verpflichtung können sich die mitgliedstaatlichen Höchstgerichte nicht durch eine Gutachtenanfrage an den EGMR nach Protokoll Nr. 16 entziehen. Was aber, wenn bereits ein Instanzgericht von seinem Vorlagerecht Gebrauch gemacht hat? Dann entfällt zwar für das nationale Höchstgericht nach der CILFIT-Rechtsprechung die Vorlagepflicht. Aber das Urteil des EuGH entfaltet durch den gesamten nationalen Instanzenzug bis zum Höchstgericht eine „innerprozessuale Bindungswirkung“, die nur durch ein auf eine erneute Vorlage ergangenes abweichendes Urteil des EuGH überwunden werden kann. Eine solche erneute Vorlage im laufenden Instanzenzug dürfte zulässig sein, wenn der EGMR zwischenzeitlich das mit einem EU-Grundrecht korrespondierende EMRK-Grundrecht abweichend vom EuGH ausgelegt hat. Außerdem müssen nationale Gerichte nicht nur CILFIT, sondern auch Foto-Frost beachten, worauf Tobias Lock zu Recht hingewiesen hat: Ergibt sich aus einem EGMR-Gutachten inzident die EMRK-Widrigkeit eines Sekundärrechtsakts, so darf das nationale Höchstgericht diesen nicht schon aus diesem Grund unangewendet lassen. Vielmehr müsste es zwingend eine Gültigkeitsvorlage an den EuGH richten, wenn es die Bedenken des EGMR teilt. Der EuGH hätte folglich in jedem Fall das letzte Wort und müsste selbst entscheiden, ob er sein vorheriges Urteil revidiert und dem EGMR folgt oder nicht.

Verbot von Gutachtenanfragen an den EGMR in unionsrechtlichen Sachverhalten?

Darüber hinaus könnte der EuGH in Fortführung seiner Rechtsprechung zur Autonomie der Unionsrechtsordnung feststellen, dass mitgliedstaatlichen Höchstgerichten Gutachtenanfragen nach Protokoll Nr. 16 gänzlich untersagt sind, wenn die Auslegung von (mit der EMRK korrespondierenden) EU-Grundrechten für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich ist. Aus den vom EuGH in den Gutachten 1/91 (EWR-Abkommen) und 1/09 (EU-Patentgerichtsbarkeit) entwickelten Maßstäben ließe sich insofern ableiten, dass dem Gerichtssystem der Union als „vollständigem System von Rechtsbehelfen und Verfahren“ jede Zwischenentscheidung (sogar eine nicht bindende) eines externen Gerichts fremd ist, dessen Auslegung des Völkerrechts sich auf (inhaltsgleiches) Unionsrecht auswirkt. Eine solche Zwischenentscheidung läge immer dann vor, wenn sie vor der abschließenden Entscheidung ergeht, in der ein nationales Gericht (ggf. nach Vorlage an den EuGH) das Unionsrecht anwendet. Eine Gutachtenanfrage nach Protokoll Nr. 16 in einem Verfahren, in dem EU-Grundrechte entscheidungserheblich sind, wäre daher eine verbotene Zwischenentscheidung. Die Kontrolle durch den EGMR dürfte nur nachträglich erfolgen, die nationalen Höchstgerichte dürften den EGMR ergo nicht schon zwischenzeitlich mittels einer Gutachtenanfrage einschalten. Ein derartiges Verbot erinnert an die Verpflichtung aus Art. 344 AEUV, demzufolge die EU-Mitgliedstaaten bei unionsrechtlichen Streitfragen von der Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK keinen Gebrauch machen dürfen. In der Lesart des EuGH in der Moxplant-Entscheidung handelt es sich bei Art. 344 AEUV um eine Ausprägung des Grundsatzes der Unionstreue. Der EuGH entschied, dass Irland gegen diesen Grundsatz verstieß, indem es ein Streitschlichtungsverfahren nach dem Seerechtsübereinkommen einleitete. Im Hinblick auf Gutachtenanfragen nach Protokoll Nr. 16 könnte der EuGH zum selben Ergebnis gelangen.

Keine Auswirkungen auf das Beitrittsabkommen der EU zur EMRK

Unabhängig davon, welche Grenzen das Unionsrecht dem Dialog zwischen mitgliedstaatlichen Höchstgerichten und dem EGMR zieht: Die Primärrechtskonformität des Beitrittsabkommens bleibt von der Problematik des Protokolls Nr. 16 unberührt. Denn das Beitrittsabkommen muss nicht völkerrechtlich regeln, was schon unionsrechtlich verboten ist. Die Konstellationen der Staatenbeschwerde oder des EGMR-Gutachtenverfahrens unterscheiden sich insofern grundlegend von derjenigen der Individualbeschwerde, durch die der Einzelne (auch) unionsrechtliche Sachverhalte nach Straßburg bringen kann, ohne dass ihn jemand daran hindern könnte. Für diese Fälle gibt es den Mit-Beschwerdegegnermechanismus („co-respondent mechanism“), der auch sicherstellt, dass der EuGH beteiligt wird (sofern noch nicht geschehen). Im Wege der Staatenbeschwerde oder des EGMR-Gutachtenverfahrens würden dagegen die EU-Mitgliedstaaten selbst bzw. ihre Gerichte unionsrechtliche Sachverhalte nach Straßburg tragen. Um dies zu unterbinden, ist ein unionsrechtliche Verbot vollkommen ausreichend, da die EU-Mitgliedstaaten und jedes ihrer Organe (einschließlich der Gerichte) zur Beachtung des Unionsrechts verpflichtet sind. Diese unionsrechtliche Verpflichtung lässt sich auch mit unionsrechtlichen Mitteln, d.h. dem Vertragsverletzungsverfahren durchsetzen.

Fazit

Der EuGH kann einem „forum shopping“ selbst Einhalt gebieten, indem er den mitgliedstaatlichen Gerichten ihre unionsrechtlichen Pflichten in Erinnerung ruft. Protokoll Nr. 16 taugt daher auch nicht – wie laut Stian Øby Johansen von einigen Prozessbeobachtern vermutet – als Vorwand, um den Beitritt der EU zur EMRK zu verhindern. Luxemburg mag dem Dialog der mitgliedstaatlichen Höchstgerichte mit Straßburg unionsrechtliche Schranken setzen. Dies ändert aber nichts daran, dass die EuGH-Rechtsprechung jedenfalls nachträglich der externen Kontrolle Straßburgs unterworfen wird, denn das ist gerade Sinn und Zweck des – nach Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtenden – Beitritts der EU zur EMRK und hat mit „forum shopping“ nichts zu tun.

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