Welches Verhalten darf der Staat kriminalisieren? Mit dieser grundlegenden Frage jeder liberalen und rationalen Kriminalpolitik ringt die moderne Strafrechtswissenschaft seit ihrer Formierungsphase vor rund zweihundert Jahren. Sie bildet auch den Hintergrund der Kontroverse zwischen Tatjana Hörnle und Thomas Fischer. Der Ahnherr der deutschen Strafrechtswissenschaft, der an Kant und Hobbes geschulte Paul Johann Anselm von Feuerbach, beantwortete sie Anfang des 19. Jahrhundert in ähnlicher Weise wie Hörnle heute: Gegenstand strafrechtlicher Verbote könne nicht jedes grob anstößige, von sittlichen oder religiösen Normen missbilligte Verhalten sein. Vielmehr dürfe das Strafrecht nur solche subjektiven Rechte des Einzelnen schützen, die seine äußere Freiheitssphäre konturieren, sowie die Rechte des Staates, dessen Institutionen die Freiheit der Einzelnen garantieren.
Dieses Modell hat zwei seit langem bekannte Schwächen: Es erklärt einerseits zu wenig und andererseits zu viel. So ist, darauf hat Fischer mit Recht hingewiesen, die Verletzung eines Rechtes einer Person allenfalls eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für eine Kriminalisierung. Nicht jede Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht ist eine Untreue im Sinne des § 266 StGB so wie nicht jede Verletzung einer familienrechtlichen Pflicht, etwa die eheliche Untreue, Strafe nach sich zieht. Entscheidend ist nicht die Verletzung eines subjektiven Rechts, entscheidend ist, ob mit diesem subjektiven Recht zugleich „das Recht als Recht“ bzw. – in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts – ein „Gemeinschaftsbelang“ oder „Gemeinschaftswert“ verletzt wird. Daher erledigt der Hinweis auf das fehlende Einverständnis gegenüber einem Grabscher oder Tatscher nicht die Einwände gegen eine Kriminalisierung solcher Verhaltensweisen.
Was aber ist ein vom Strafrecht schützenswerter Gemeinschaftsbelang? Die Strafrechtswissenschaft hat darauf bis heute keine auch nur annähernd überzeugende Antwort gefunden. Den Begriff des Rechtsguts, den sie seit rund vier Jahrzehnten als gesetzgebungskritisches Kriterium verwendet, weiß sie nicht zu konturieren, seine Geltung nicht zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht konnte in seiner Inzest-Entscheidung gar nicht anders, als ihn zurückzuweisen. Seinerseits hat sich das Gerichts jedoch bislang keine größere Mühe gemacht, die verwendeten Begriffe mit Inhalt zu füllen, sondern auf das Ermessen des Gesetzgebers verwiesen.
Mehr, scheint mir, ist auch nicht möglich. Denn die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs und seiner heutigen Rezipienten ist nicht nur zu weit, sondern auch zu eng. Freiheit ist mehr als die Abwesenheit fremden Zwangs; real und wirkmächtig ist die Freiheit der Person erst dann, wenn ihm gesellschaftliche und staatliche Institutionen die Entfaltung seiner Freiheit ermöglichen. Zu dieser Infrastruktur der Freiheit gehört auch ein Kern gemeinsamer Werte, ein overlapping consensus (Rawls), ohne den die Gesellschaft ihre innere Stabilität verliert. Im 19. Jahrhundert war dieser overlapping consensus vor allem religiös fundiert. Daher scheiterte Feuerbachs Versuch, sein reduktionistisches Strafrechtsmodell in die Wirklichkeit zu überführen, schnell und kläglich: Das von ihm maßgeblich verfasste Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 liberalisierte die Sittlichkeits- und Religionsdelikte derart radikal, dass es seiner Zeit weit voraus eilte und nie die Akzeptanz der Rechtsanwender und Bürger fand: Buchstäblich am Tag seines Inkrafttretens begann die Diskussion um eine restaurative Reform. Erst Mitte der 1970er Jahre war das Strafgesetz auf der Höhe seiner Zeit. Ehebruch, Homosexualität, Kuppelei: all dies wurde entkriminalisiert. Feuerbachs Vorstellungen hatten die Mitte der Gesellschaft und damit auch den Gesetzgeber erreicht. Weil diese in einem Ehebruch keinen Angriff mehr auf ihre Normen sah, konnte die Verletzung der subjektiven Rechte des betrogenen Ehepartners zu einer alleinigen Angelegenheit des Familienrechts werden. Das Strafrecht zog sich zurück.
Soll es nun wieder ausgedehnt werden, weil die Gesellschaft, wie Fischer richtig beobachtet hat, Sexualisierung und Prüderie widerspruchsvoll mischt? Meines Erachtens lohnt ein rechtsvergleichender Blick. In den USA hat die „Overcriminalization“ (Huzak) nicht den angestrebten kriminalpolitischen Ziele erreicht, im Gegenteil: Der übermäßige Gebrauch hat das Schwert Strafrecht nicht nur stumpf gemacht, sondern auch diskreditiert. Dieses Beispiel sollten den Gesetzgeber von seiner Strategie der Rekriminalisierung Abstand nehmen lassen.