Mathias Hong gibt auf die Frage, ob der Erste Senat mit seiner jüngsten Entscheidung zum Kopftuch in Schulen das Plenum hätte anrufen sollen, eine bestechend schlichte Antwort – so schlicht, dass sie nicht überzeugen kann. Der Zweite Senat habe im Jahr 2003 den damals erhobenen Verfassungsbeschwerden stattgegeben, weil das Verbot der Schulbehörde keine gesetzliche Grundlage gehabt habe. Hierin allein, nicht in materiellen Erwägungen, habe der tragende Grund der Entscheidung gelegen. Von diesem Ausspruch sei der Erste Senat nicht abgewichen. Dass das nicht die ganze Geschichte ist, wird von ihm immerhin angedeutet. Denn das alte Urteile sandte immerhin „Signale“ an den Gesetzgeber. Diese waren aber nicht entscheidungserheblich. Das ist alles?
Hong schreibt: „Mal angenommen, das Urteil hätte außerdem klipp und klar gesagt, dass ein Kopftuchverbot, das „mit der Abwehr abstrakter Gefährdungen“ begründet wird, ansonsten verfassungsgemäß sein kann, und es hätte auch genauer beschrieben, wie ein entsprechendes Gesetz auszusehen hätte. Wären diese Ausführungen dann für das Ergebnis tragend gewesen? Wohl kaum: Der Verfassungsbeschwerde wurde stattgegeben, weil Grundrechtseingriffe ohne eine hinreichend bestimmte gesetzliche Eingriffsgrundlage verfassungswidrig sind. “
Er fügt später an: „Der Punkt lässt sich ganz generell fassen: Wenn ein Recht deshalb verletzt ist, weil für den Eingriff eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage fehlt, dann können jedenfalls zu diesem Begründungspfad einer Entscheidung Aussagen darüber, wann ein hinreichend bestimmtes Gesetz möglicherweise verfassungsmäßig sein könnte, keinerlei unterstützenden Beitrag leisten. Sie können stets „hinweggedacht“ werden, ohne dass deshalb das Ergebnis nach dem Gedankengang dieses Begründungspfads entfiele.“
Nun erscheint es schwer vorstellbar, vor dem Ersten Senat zu stehen und auf die Frage nach den Erwägungen in Urteil X zu erwidern, dass diese für den Gesetzgeber nicht relevant, weil nicht entscheidungserheblich waren – eben bloße „Signale“, die man auch ignorieren kann. Dem Gesetzgeber wird das nicht helfen. Und: Was machen solche Signale eigentlich in einem Urteil, wenn sie den Beschwerdeführerinnen ohnehin nicht zur Seite stehen? Heisst obiter dictum, dass das Gericht einfach irgendetwas schreiben kann? Wohl kaum. Auf diese Frage gibt es im Verfassungsprozessrecht zudem eine selten klare Antwort: Die Verfassungsbeschwerde dient, so die ständige Rechtsprechung, nicht nur dem subjektiven Rechtsschutz, sondern auch dazu das objektive Verfassungsrecht „zu wahren, auszulegen und fortzubilden.“ Kann aber die Fortbildung des Verfassungsrechts verfassungsrechtlich irrelevant sein, nur ein informeller Rest jenseits der Rechtskraft, etwas für Kulturwissenschaftler? Nein: Wenn das Gericht von Verfassungs wegen diese objektive Aufgabe wahrnimmt, dann sind die Teile der Begründung, in denen sie dies tut, auch rechtlich relevant. Im übrigen reduziert das Gericht seine Aufgabe nicht nur nicht nominal auf den subjektiven Rechtsschutz, es judiziert auch entsprechend, nicht zuletzt wenn es Verfassungsbeschwerden von Toten entscheidet. Auch jenseits solcher problematischen Ausgriffe ist aber schwerlich zu bestreiten, dass ein Verfassungsgericht in der Verfassungsbeschwerde rechtliche Vorgaben für den politischen Prozess entwickelt. Wenn das Gericht vom Gesetzgeber völlig zu Recht erwartet, Entscheidungsbegründungen nicht nur aus der Perspektive der Parteien zu lesen, kann es umgekehrt auch nicht so tun, als seien Aussagen zum objektiven Verfassungsrecht nur zweitrangig oder informell. Man muss nur sehen, wie weitgehend sich der Gesetzgeber selbst an Begründungen unzulässiger Verfassungsbeschwerden orientiert und wie selbstverständlich sich auch das Gericht in seiner Zitierpraxis an alle seine rechtlichen Erwägungen hält, um zu erkennen, dass hier eine andere juristische Rationalität am Platz ist. Gehört die knallharte juristische „Logik“, die Hong hier anruft (und deren Anrufung im Verfassungsrecht eigentlich immer der Verdeckung eines Problems dient) nicht vielleicht doch eher ins Sachenrecht? Die Kunst des Verfassungsrecht besteht darin, neben den formellen Grenzen auch die Grenzen der Form zu kennen.
Aber es heißt doch „tragende Gründe“. Tragen nicht nur diejenigen Gründe, die zum Tenor führen? So heißt es, aber wo heißt es eigentlich so? (Der Klarheit halber ergänze ich im Nachhinein: Ja, in der Rechtsprechung des Gerichts, aber:) Jedenfalls nicht im Gesetz, das davon spricht, dass der Senat dem Plenum vorlegen muss, wenn er „in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen“ will. Man lese Hongs Artikel noch einmal mit diesem Wortlaut im Ohr.