Die große Mehrheit der Iren hat bekanntlich letzte Woche dafür gestimmt, das verfassungsmäßige Recht zu heiraten für alle Geschlechterkonstellationen zu öffnen. Außerhalb des Vatikanstaats und der FAZ-Politikredaktion sind eigentlich alle sehr glücklich darüber, und selbst denen, die es nicht sind, fällt zur Begründung meist nicht mehr ein als ihr Bauchgefühl, was ja im Grunde äquivalent ist zu dem verschämten Eingeständnis, dass es nichts Vernünftiges dagegen einzuwenden gibt. Damit könnte man es eigentlich gut sein lassen und sich getrost dem Leeren weiterer Champagnerflaschen widmen.
Vielleicht ist das jetzt nur etwas für Verfassungsnerds, aber ein gewisser Irritationspunkt bleibt noch. Nicht diskriminiert zu werden ist ein Minderheitenrecht. Es schützt die Nicht-Mehrheit vor dem politischen Willen der Mehrheit. Ein solches Recht nun in einem Referendum zur Abstimmung zu stellen und damit just dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen, vor dem es Schutz bieten soll – ist das nicht widersprüchlich, wenn nicht gar gefährlich? Sind Rechte tatsächlich etwas, dessen Existenz man ermitteln kann, indem man fragt, wer dafür ist und wer dagegen, und dann die Stimmen auszählt? Angenommen, das No-Lager hätte gewonnen – hätte das mit der gleichen Autorität geheißen, dass gleichgeschlechtliche Paare keinen Anspruch besitzen, heiraten zu dürfen wie jedes andere Paar auch? Wie will, wer jetzt triumphiert, noch protestieren, wenn irgendwo eine weniger liebenswürdige Constituency als die Iren den umgekehrten Weg geht und per Referendum ein verfassungsrechtliches Verbot der Homo-Ehe durchsetzt?
Leonid Sirota (dessen Blog Double Aspect für alle, die sich für kanadisches Verfassungsrecht interessieren, übrigens ein heißer Tipp ist) hält diesem Argument entgegen, dass es ganz normal ist, per politischem Mehrheitsentscheid die Reichweite von Rechten zu beeinflussen oder zu bestimmen, und dass die Alternative, diese Entscheidung den Gerichten zu überlassen, in Wahrheit gar keine ist.
Auch mir scheint diese Irritation auf einem Missverständnis zu beruhen, aber ich würde hier anders argumentieren. Mir scheint, dass es darauf ankommt, ob die Mehrheit der Minderheit ein Grundrecht gewährt oder wegnimmt, und dass man zwischen beidem durchaus auf tragfähige Weise unterscheiden kann. In einen Fall hat man es mit einem Akt der Selbstbindung zu tun. Die Mehrheit bindet sich, von bestimmten Möglichkeiten, die Minderheit zu unterdrücken, keinen Gebrauch zu machen, und beugt sich darin gerichtlicher Kontrolle. Bindung, um Freiheit zu gewinnen: so entsteht Verfassungsrecht immer, wenn man nicht gerade glaubt, dass es auf Marmortafeln vom Himmel heruntergereicht oder der Natur inhärent ist oder so etwas. Die Mehrheit der Iren will sich selbst kraft Verfassungsrecht verbieten, gleichgeschlechtliche Paare bei der Eheschließung zu diskriminieren, und daran wird sie sich zu halten haben, auch wenn es ihr späterhin aus irgendwelchen Gründen nicht mehr opportun erscheinen sollte.
Im anderen Fall haben wir es mit dem Gegenteil zu tun: Sollte die irische Mehrheit es sich tatsächlich anders überlegen und per Referendum die Ehe für alle wieder abschaffen oder gar verbieten, dann wäre dies kein Vorgang der Selbstbindung, sondern der Selbstermächtigung. Die Mehrheit würde ihre politischen Handlungsspielräume vergrößern, und zwar auf Kosten der Minderheit.
Es ist überhaupt kein Widerspruch, der im einen Fall der Mehrheit zu applaudieren und sie im anderen Fall scharf zu kritisieren. Das wäre mitnichten opportunistisch, sondern vollkommen folgerichtig. Zwar schreibt die Mehrheit formell in beiden Fällen die Verfassung um, aber im einen Fall schafft sie ein Mehr, im anderen ein Weniger an verfassungsrechtlicher Bindung. Und darauf kommt es an und nicht, ob in einem demokratischen oder einem justiziellen Verfahren definiert wird, wie weit das Recht reicht.