2. September 2015

Maximilian Steinbeis

Deutschland und die Flüchtlingskrise: von wegen Reluctant Hegemon

Klingt das nicht alles merkwürdig vertraut? Notstände und dramatische Fernsehbilder aus der südöstlichen Peripherie der EU. Rechtsbrüchige Regierungen, die ihre Verantwortung einfach an andere, reichere Mitgliedsstaaten weiterschieben. Deutschland schwer empört über den schlanken Fuß, den sich die anderen auf seine Kosten machen wollen, hoch oben auf dem moralischen Ross, allein und unverstanden. Unfassbar egoistische Briten. Unfassbar unfassbare Ungarn. Und ja, richtig, 2011 war es ja schon mal ganz entsetzlich, eigentlich ist das alles gar nicht neu. Und obwohl schon damals alle nach einer verantwortlichen europäischen Lösung gerufen haben, ist seither überhaupt nichts passiert…

Eben noch war es die Eurokrise. Jetzt sind es die Flüchtlinge. Und man kann mit beinahe den gleichen Worten den jeweiligen Verlauf beschreiben. Das kann doch kein Zufall sein. Was ist das für ein Muster, das sich da abzeichnet? Was sind da für strukturelle Kräfte am Werk?

An dieser Frage könnte man vermutlich ein ganzes Jahr herumdoktern. Meine Ad-Hoc-Vermutung wäre: das hat mit Angela Merkel zu tun.

Die flüchtlingspolitische Position der von ihr geführten Bundesregierung hat sich in den letzten Monaten ganz bemerkenswert weiterentwickelt. Vor gerade mal zwei Jahren, in der Debatte um das Dublin-III-Abkommen, fanden Deutschland und seine Bundeskanzlerin es noch total in Ordnung, dass jedes Land selber mit den Flüchtlingen fertig werden soll, die bei ihm einlaufen. Das waren praktischerweise damals im Wesentlichen Italien und Malta und Ungarn und Griechenland. Die riefen mit großer Energie nach europäischer Solidarität und einer gerechteren Verteilung der Verantwortung für die in Europa ankommenden Flüchtlingsströme. Warum kam es nicht dazu? Weil Deutschland es nicht wollte. Wieso auch? Lief doch super für uns.

Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Lampedusa zwar in Italien bleibt, nicht aber die dort angelandeten Flüchtlinge. Die Länder am Mittelmeer und an der Balkanroute mögen rechtlich weiter verantwortlich sein für das Asylverfahren, aber wenn die Flüchtlinge nun einmal lieber nach Deutschland wollen, werden sie halt nur begrenzten Eifer darin entfalten, sie bei sich zu behalten. Das Ergebnis: Deutschland muss 2015 mit einem Flüchtlingszuwachs von knapp einem Prozent seiner Gesamtbevölkerung fertig werden. Jetzt plötzlich fällt der Bundesregierung ein, wie ungerecht es ist, dass es keinen europäischen Solidaritätsmechanismus in der Flüchtlingspolitik gibt. Mit großer Geste wird anklagend mit dem Finger auf die Polen und die Slowaken gezeigt und deren empörender Mangel an europäischer Solidarität angeprangert. Das zieht halt jetzt nicht mehr so recht, und das ist eigentlich nicht weiter erstaunlich. (Dass die Kanzlerin in der deutschen Öffentlichkeit damit wieder einmal völlig ungeschoren davon kommt, ist ein Vorgang für sich und zeigt einmal mehr, was ein Vierfünftelmehrheits-Bundestag für demokratische Kosten erzeugt.)

Auch in punkto Eurokrise konnte und kann Deutschland sagen: Wieso etwas ändern? Läuft doch super für uns. Zinsen sind niedrig, Arbeitslosigkeit auch, Exportwirtschaft brummt. Und ohne uns kann niemand. Jean-Claude Juncker und seine so genannten fünf Präsidenten, die sollen aus Sicht des Kanzleramts und des Bundesfinanzministeriums für uns arbeiten, anstatt große Töne zu spucken und so zu tun, als seien sie für die Gestaltung Europas politisch legitimiert. Dass die Franzosen mitsamt ihrem Jungspund von Wirtschaftsminister gern eine Transferunion hätten, mit der sie unser sauer verdientes Geld für ihre Staatswirtschaftspolitik verjuxen können, wissen wir schon lange.

Deutschland unter Angela Merkel wird oft als reluctant hegemon beschrieben, als gutmütiger Riese, der am liebsten gemütlich weiter seinen kleinen provinziellen Garten bestellen würde, sich aber widerwillig von den Weltläuften gezwungen sieht, einer ihm aufgedrängten Führungsrolle in Europa und der Welt gerecht zu werden. Ich habe immer größere Zweifel, ob diese Beschreibung stimmt.

Das ist eisenharte nationale Interessenpolitik, was die deutsche Bundesregierung seit vielen Jahren treibt. Intergouvernemental, solange es gut für Deutschland läuft. Europäische Solidarität einfordernd, wenn nicht. Die Reluctance, die Merkel und die deutsche Öffentlichkeit dabei an den Tag legen, bezieht sich nach meiner Wahrnehmung nicht so sehr auf den Hegemonialstatus selbst als auf die imperiale Grandeur und Machoposen, die damit gewöhnlich einhergehen: dass uns das nicht gut steht, haben wir begriffen. Aber Hegemon im Sinn von tun können, was für uns am besten ist, und auch alle anderen nötigen können zu tun, was für uns am besten ist? Das nehmen wir doch mit Vergnügen.

Nun ist die europäische Integration bekanntlich gerade dazu da, nationale Hegemonialpolitik in diesem Sinne zu unterbinden. Daseinszweck der Europäischen Union ist es, Rechtsregeln, Institutionen und politische Räume bereitzustellen, auf dass die nationale Politik besser der Versuchung widerstehe, ihre Macht auf Kosten ihrer Nachbarn zu mehren. Von den Effizienzgewinnen, die dadurch entstehen, dass wir uns nicht mehr ständig zu sorgen brauchen, dass die anderen uns etwas abluchsen wollen, leben wir mit unseren alternden, wenig dynamischen Gesellschaften seit vielen Jahrzehnten, und zwar sehr komfortabel.

Wir haben den größeren Teil des vergangenen Jahrzehnts damit zugebracht, den europäischen Regulierungsrahmen für nationale Macht- und Interessenpolitik nach allen Regeln der Kunst zugrunde zu richten. Alle miteinander. Emmanuel Macron und viele andere haben begriffen, dass wir so nicht weitermachen können. Das Kanzleramt sagt unterdessen: Wieso denn? Läuft doch.

Bis auch diese Krise zu uns findet.

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