Die Entscheidung zur Ermächtigung der deutschen Staatsanwaltschaft, gegen Jan Böhmermann ein Strafverfahren nach § 103 StGB einzuleiten, wird naturgemäß hitzig diskutiert. Über die politischen, straf- und menschenrechtlichen Aspekte hinaus weist der Fall auch eine nicht zu verachtende allgemein-völkerrechtliche Komponente auf: Die Achtung der Ehre fremder Staaten.
Diese Verpflichtung scheint im Lichte der Meinungsfreiheit und aufgrund der Web 2.0-bedingten Zunahme von Schmähungen aller Art in Vergessenheit geraten zu sein. Man denke etwa an Nordkorea: Kim Jong-Un dient vielen als Gaudium, was im Sinne des klassischen Völkerrechts eigentlich oft zu weit geht; umgekehrt strotzt auch die Rhetorik von Nordkorea nicht gerade vor Zurückhaltung (es kann beispielsweise schon mal passieren, dass offizielle Stellungnahmen von den „gangster-like U.S.“ sprechen).
Nordkorea und „The Interview“
Ein aus dem Jahr 2014 stammender entfernter Vorläufer zur Böhmermann-Causa kann im Film „The Interview“ gesehen werden, in dem das nordkoreanische Staatsoberhaupt nicht sonderlich gut davonkommt und am Ende sogar getötet wird. Damals übermittelte Nordkorea eine im Hinblick auf ihre Formulierung äußerst lesenswerte Stellungnahme an den UN-Generalsekretär, derzufolge der Film gewisse Grenzen klar überschreite: „The enemies have gone beyond the tolerance limit in their despicable moves to dare hurt the dignity of the supreme leadership of DPRK.” Die Herstellung und Verbreitung eines solchen Films wurde gar als „the most undisguised sponsoring of terrorism as well as an act of war” bezeichnet, sollten die USA ihn weiterhin protegieren und seine Veröffenlichung zulassen, werde daher eine „strong und merciless countermeasure“ folgen. Sony entschied sich letzten Endes dazu, ihn weder in den Kinos noch auf Streaming-Plattformen zu zeigen.
Die Achtung der Ehre fremder Staaten hat freilich einen altertümlichen Geruch, steht sie doch der Gleichsetzung mit Individuen sehr nahe – der große Völkerrechtler Philip C. Jessup sprach in seinem Werk A Modern Law of Nations aus dem Jahr 1948 beispielsweise davon, dass Staaten Gefühle haben und der psychologische Faktor in der Weltpolitik nicht ignoriert werden dürfe. Spätestens seit dem Bedeutungsanstieg der Menschenrechte ab den 1970er Jahren werden Staaten weniger mythologisch gesehen: Als Zweckgebilde, die dem Wohl der jeweiligen Bevölkerung dienen und deren Souveränität folglich an die Einhaltung elementarer Menschenrechte gekoppelt ist.
Dennoch kann nicht von einer völligen desuetudo der Staatsehre und den dahingehenden Verpflichtungen gesprochen werden. Auch heute verlangt die grundsätzliche Gleichheit der Staaten und die allgemeine Courtoisie von Staatsvertretern und -organen aller Art ein gewisses Maß an Respekt gegenüber fremden Staaten, Regierungen oder ganzen Völkern.
Neben dem staatlichen Handeln sind auch Ehrverletzungen durch Privatpersonen zu verhindern, also entsprechend unter Strafe zu stellen und zu verfolgen. Unklarheit besteht hinsichtlich der Reichweite der dahingehenden Sorgfaltspflicht – hier entscheidet letztlich der Grad der Pressefreiheit: Je stärker diese ausgebaut ist, desto geringer die Notwendigkeit, eigene, über die konventionellen Ehrbeleidigungsbestimmungen hinausgehende Gesetze zu erlassen.[1] Deutschland ist somit qua Völkerrecht nicht dazu verpflichtet, § 103 StGB beizubehalten.
Des Weiteren spielt auch die Art des Protests und des Mediums, über das Ehrverletzungen erfolgen, eine Rolle: Für staatliche und staatsnahe Medien gilt ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab, im Extremfall können sie gar als Äußerungen des Staates selbst verstanden werden (man kann in Christopher Clarks Buch The Sleepwalkers sehr schön nachlesen, wie die staatlich gelenkte Presse ihren Teil zum Ersten Weltkrieg beigetragen hat). Dieser bislang eher unterbeleuchtete Aspekt erscheint insofern bedeutsamer als man meinen mag. Will man Erdogan keine zusätzlichen juristischen und politischen Waffen in die Hände legen, gilt es einmal mehr auf die Frage der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des ZDF als öffentlich-rechtliche Sendeanstalt einzugehen.
Ein Revival der Staatsehre?
Für Gerichte bestehen im Umgang mit derartigen Fallkonstellationen unterschiedliche Ankerpunkte zur Oszillation: Einerseits können sie den zwischenstaatlichen Kontext ignorieren und die EGMR-Rechtsprechung, derzufolge Regierungsmitglieder sich mehr Kritik gefallen lassen müssen als Privatpersonen oder andere Politiker (siehe etwa Başkaya und Okçuoğlu gegen die Türkei), auf ausländische Staatsoberhäupter ausdehnen.
Andererseits können sie die Staatsehre stärker gewichten und einen strengeren Maßstab anlegen als bei Kritik gegenüber der „eigenen“ Regierung. Damit wäre auch (mehr) Platz für den größeren Kontext geschaffen, um etwaige weltpolitische Folgen und die Besonderheiten der jeweiligen Situation einfließen zu lassen. Der hohe Preis wäre ein Doppelstandard bei der Anwendung der Meinungsfreiheit.
Ein möglicher Mittelweg besteht darin, das Konzept der Staatsehre nur auf Staaten und Völker, nicht aber auf Regierungsmitglieder oder Staatsoberhäupter anzuwenden. Allerdings verschwimmt die Grenze, sobald weite Teile der Bevölkerung gegen politische Führungspersönlichkeiten gerichtete Beleidigungen auch auf sich beziehen, was umso wahrscheinlicher ist, wenn eine derartige Gleichsetzung von einflussreichen staatlich-gelenkten Medien gefördert wird – so goss die auflagenstärkste und äußerst AKP-nahe türkische Zeitung „Sabah“ zusätzlich Öl ins Feuer und bezeichnete das Böhmermann-Gedicht als eine Beleidigung der ganzen Nation.
Aus rein-rechtlicher Sicht (die politischen Aspekte seien an dieser Stelle außen vor gelassen, ich habe mich dazu hier geäußert) ist schon jetzt klar, dass mit der Causa Böhmermann ein Lehrbuchbeispiel geschaffen wurde. Nicht nur für das Strafrecht und die Frage der Grenzen der Meinungsfreiheit, sondern auch für das allgemeine Völkerrecht. Womit letzten Endes die drängende Frage im Raum steht, ob die Pflicht zur Wahrung der Ehre fremder Staaten in Zeiten erhöhter weltpolitischer Spannungen eine Renaissance erlebt oder die Causa Böhmermann ein Einzelfall bleibt. Neben Erdogan werden auch andere empfindliche Staatsoberhäupter die Angelegenheit sehr genau verfolgen. Keine leichte Aufgabe für die Rechtsprechung.
[1] Alfred Verdross, Völkerrecht (fünfte neubearbeitete und erweiterte Auflage unter Mitarbeit von Stephan Verosta und Karl Zemanek, Springer Verlag 1964), 239.