Mit zwei wichtigen Entscheidungen, eine davon sogar epochal wichtig, versucht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg heute, die Türkei auf den Pfad zu Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit zu lenken. Beide betreffen Regelwerke und Rechtspraktiken, die dem Staat erheblichen Spielraum gewähren, je nach Nützlichkeit und Laune so oder anders zu entscheiden. Beide verschaffen Minderheiten, vor denen der Staat Angst hat, Schutz. Beide hindern den Staat daran, sich um ihrer besseren Lenkbarkeit willen eine uniforme Gesellschaft zu schaffen. Beide werden der türkischen Regierung noch schwer zu schaffen machen.
Religions-Blindheit ist Menschenrechtsverstoß
Die erste Entscheidung, ein umfangreiches und gewichtiges Grundsatzurteil der Großen Kammer, betrifft die religiöse Minderheit der Aleviten. Die werden in der Türkei geduldet, können ihren Glauben frei und offen leben, aber sie werden nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt. Während der sunnitische Islam vom Staat direkt finanziert und organisiert wird, quasi als eine Art öffentliche Dienstleistung, genießen die 25 Millionen türkischen Aleviten keine rechtlich gesicherte Stellung. Sie gelten offiziell als bloßer Sufi-Orden, in deren Versammlungshäusern kein Gottesdienst gefeiert, sondern lediglich irgendwelche Kultzeremonien vollzogen werden, in einen rechtlichen Graubereich verbannt und von allen Privilegien, die die Sunni genießen, ausgeschlossen.
Ist das ein Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 9? Jawohl, so das Mehrheitsvotum, das ist es. Und diskriminierend ist es obendrein.
Nun rühmt sich die Türkei bekanntlich als laizistischer Staat per excellence, die Pflicht, Glaubensdinge Privatsache sein zu lassen, quasi per definitionem geradezu überzuerfüllen. Laizismus im Sinn von „Religion? Ich kenne keine Religion“ ist aber für die Richtermehrheit – und das macht das Urteil so interessant – kein gangbarer Weg, die Glaubensfreiheit der Bürger zu wahren.
Das Schlüsselwort in der Urteilsbegründung ist Pluralismus. Der EGMR schreibt dem Staat nicht vor, Religionsgemeinschaften an seine Brust zu drücken und mit Wohltaten zu überschütten. Er schreibt ihm nur vor, wenn er Religion managt, dabei deren Vielfältigkeit im Blick zu behalten. Religion ist eben nicht nur Privatsache. Religion ist etwas Öffentliches. Wenn der Staat sie (um sie unter Kontrolle zu halten) managt, darf er das eben nicht nur für die Sunniten tun, sondern er muss auch für andere wahrnehmungsfähig bleiben, die in Ausübung ihrer Glaubensfreiheit darauf beharren, etwas anderes zu glauben als die Sunniten.
Dass sich dieser Ansatz mit bestimmten Vorstellungen von staatlicher Neutralität in Glaubensdingen schlecht verträgt, wird aus den Minderheitsvoten deutlich. Marc Villiger (Liechtenstein), Helen Keller (Schweiz) und Jon Fridrik Kjølbro (Dänemark) können gar keinen Eingriff in die Glaubensfreiheit der Aleviten erkennen. Es gebe zwar ein altes Gesetz, das Sufi-Orden verbietet, aber das sei nicht länger in Gebrauch. Verletzt seien die Aleviten allenfalls in ihrem Recht, nicht diskriminiert zu werden, aber diskriminierend sei die bevorzugte Behandlung der Sunna als „Quasi-Staatsreligion“, nicht die benachteiligende Behandlung der Aleviten.
Das alte, nicht mehr angewandte Gesetz zum Verbot von Sufi-Orden ist für die Kammermehrheit hingegen ein zusätzliches, ebenfalls interessantes Argument: Ein Gesetz, das noch gilt, aber irgendwie nicht mehr gilt, schafft die Grundlage für staatliche Willkür.
The apparent result is that the free practice of their faith by members of a religious group characterised in domestic law as a “Sufi order” depends primarily on the good will of the administrative officials concerned, who appear to have a degree of discretion in applying the prohibitions in question.
Das schlägt die Brücke zu dem zweiten Urteil aus Straßburg, das ebenfalls den staatlichen Umgang der Türkei mit gesellschaftlicher Vielfalt betrifft.
Parteienfinanzierungsrecht als Oppositionskontrolle
In dem Fall geht es um die langjährige Regierungs- und jetzige Oppositionspartei CHP, die älteste und bis 1945 einzige Partei in der Türkei, von Mustafa Kemal Atatürk gegründet, säkular, sozialdemokratisch, das urbane Bürgertum vertretend und Staatschef Erdoğan und seiner islamisch-konservativen AKP in tiefer wechselseitiger Abneigung verbunden. Deren Parteifinanzen nahm der zuständige Verfassungsgerichtshof unter die Lupe und fand in den Jahren 2007, 2008 und 2009 so viele angebliche Unregelmäßigkeiten, dass die CHP insgesamt fast 3 Millionen Euro an die Staatskasse zurückzahlen musste. Wie der Zufall es wollte, wurde diese Zahlung wenige Monate vor den erbittert umkämpften Kommunalwahlen im März 2014 fällig.
(W)hile the important purpose served by the financial inspection of political parties is undeniable, such inspection should never be used as a political tool to exercise control over political parties, especially on the pretext that the party is publicly financed,
betont die Kammer, bevor sie die gesetzlichen Grundlagen, auf der das Verfahren gegen die CHP beruhte, unter die Lupe nimmt. Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit, eine Partei mit finanziellen Sanktionen zu überziehen, kann nur gerechtfertigt sein, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und angemessen erscheint. Im Fall der CHP scheitert die Türkei schon auf der ersten Stufe: Die Rechtslage, welche Ausgaben einer Partei legitim sind und welche nicht, waren zum maßgeblichen Zeitpunkt so schwammig formuliert, dass kein Mensch wusste, was man darf und was nicht. Das war keine valide gesetzliche Grundlage für einen solchen Eingriff, und auch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, das diese Normen auslegt, war in sich zu widersprüchlich, um sie zu einer zu machen.
Beide Urteile geben tiefe Einblicke in die Art, wie Erdoğans Türkei funktioniert. Sie machen sichtbar, dass dies ein Staat ist, der (Verfassungs-)Recht nicht als Bindung versteht, sondern als Waffe benutzt. Wie Putins Russland, wie Orbáns Ungarn. Sie erinnern uns daran, wie froh wir sein können, dass es die EMRK und den Straßburger Gerichtshof gibt: Ihre eigenen Verfassungen mitsamt ihren Verfassungsgerichtshöfen können diese Autokraten sich zurechtmanipulieren, wenn sie genügend Macht akkumuliert haben. Die Konvention und den EGMR nicht. Aus dem performativen Widerspruch, permanent gegen die Konvention verstoßen und ihr doch angehören zu wollen, weil man halt nicht zu Europa gehört, wenn man nicht zur EMRK gehört – aus der Konstellation kommen sie nicht heraus, da mögen sie national noch so viel politische Macht anhäufen. Das ist der Punkt, an dem man sie kriegen kann.
Aber das geht natürlich nur, wenn wir in Westeuropa es uns verkneifen, auf zynische und leichtfertige Weise unsere eigene Mitgliedschaft in der EMRK in Frage zu stellen. Dass die amtierende britische Innenministerin Theresa May jetzt die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Menschenrechtskonvention als Brikett missbraucht, um den viel zu schwach glimmenden Remain-Wahlkampfofen im Brexit-Referendumswahlkampf zu befeuern, ist ein Manöver von derart unfassbarer Erbärmlichkeit, dass es mir den Magen umdreht.