Viele kommen, viele sollen bleiben (aber nicht alle) und sind frühzeitig zu integrieren, manche sollen gehen, werden aber dennoch bleiben. Im Angesicht dessen, was man ‚Flüchtlingskrise‘ zu nennen pflegt, hat der Gesetzgeber in den vergangenen zwölf Monaten an zahlreichen Stellschrauben gedreht und unterschiedliche Signale zu versenden versucht. Er scheint zunehmend hin und her gerissen zwischen humanitären Verpflichtungen, integrativen Zielsetzungen und begrenzenden Maßnahmen. Einen der prägnantesten Kristallisationspunkte dieser gegenläufigen Tendenzen stellt das Konzept der ‚guten Bleibeperspektive‘ dar, welches in dem Tatbestandsmerkmal „rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten“ (vgl. etwa § 44 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 AufenthG zur Öffnung der Integrationskurse für Personen im laufenden Asylverfahren, § 421 Abs. 1 S. 1 SGB III zur Förderung von Sprachkursen) mustergültig zum Ausdruck kommt.
Gute Bleibeperspektive? Wer legt sie fest?
Die Anwendung dieses Prognosemerkmals erfolgt derzeit noch schematisch unter Zuhilfenahme des gröbsten Maßstabs, den das Asyl- und Aufenthaltsrecht bereithält, nämlich nach dem Herkunftsstaat. Hier dient die sogenannte – allerdings noch unbereinigte – Gesamtschutzquote als Orakel.
Diese ist für das bisherige Berichtsjahr 2016 (Januar-April) für Afghanen mit 46,5 % ausgewiesen (0,3 % Asylberechtigte + 25,8 % GFK-Flüchtlinge + 8,1 subsidiär zu Schützende + 12,3 % einem nationalen Abschiebungsverbot Unterliegende), und hier gilt nach Maßgabe der Rechtsauffassung des BMAS und der BA im Ergebnis: Knapp daneben ist auch vorbei. Zu berücksichtigen seien nämlich nur Personen aus Syrien, Irak, Eritrea und Iran, die – der Referenzzeitrahmen bleibt indes unklar – regelmäßig eine Schutzquote von über 50 % aufweisen.
Bei den Iranern wird besonders deutlich, dass diese Ressourcenverteilungsentscheidung in Bezug auf öffentliche Integrations-‚Leistungen‘ dem wahlrechtlichen Mehrheitswahlprinzip ähnelt: The winner takes it all! Für 2016 weist die Statistik für Iraner bislang eine Gesamtschutzquote von 56,2 % aus, der Unterschied zu der Gruppe der afghanischen Schutzsuchenden hält sich in Grenzen. Im Gesamtjahr betrug die Quote für Afghanen 47,6 %, die Zahlen sind hier also halbwegs stabil, es sind aber eben ‚nur‘ knapp unter 50 %.
Unabhängig von der Frage, ob ein Abstellen auf die noch unbereinigte Statistik überhaupt sinnvoll ist (rechnet man nämlich die sog. förmlichen Entscheidungen in 2015 heraus, bei denen das BAMF z.B. wegen Antragsrücknahme oder Zuständigkeitsübernahme durch einen anderen Dublin-Staat keine inhaltliche Entscheidung trifft, so beträgt die materielle Schutzquote für Afghanen 77,63 %), erscheint die schematische Aufteilung nach Herkunftsstaat problematisch.
Dies gilt umso mehr, als diese – außerordentlich grobkörnige – ‚Typisierung‘ behördlicherseits erfolgt und beziehungslos zu der bereits erfolgten gesetzlichen Typisierung tritt, nach der bei Personen aus sicheren Herkunftsstaaten zu vermuten ist, dass ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt nicht zu erwarten ist (vgl. etwa § 44 Abs. 4 S. 3 AufenthG, § 421 Abs. 1 S. 3 SGB III). Neben die gesetzliche Vermutung, die sich immerhin auf tatsächlich ausgesprochen niedrige Anerkennungszahlen stützen lässt, tritt nun eine Behördenvermutung, die bei ganz anderen Zahlen eine gleichlautende ‚Vermutung‘ trifft.
Ja mehr noch: Während die gesetzliche Vermutung – wie es dem Konzept des sicheren Herkunftsstaats insgesamt entspricht – zumindest theoretisch widerlegbar ist, erscheint die apodiktische Behördenpraxis in punkto Integrationsmaßnahmen normativ nicht hinreichend abgesichert und ausdifferenziert. Sollen afghanische Asylbewerber wenigstens individuelle Umstände vortragen dürfen, die auf eine gute Bleibeperspektive schließen lassen? Sicher handelt es sich um einen unbestimmten und d.h. auch: gerichtlich voll überprüfbaren Rechtsbegriff. Aber ist es sinnvoll, eine – wachsende – Personengruppe mit mittlerer Anerkennungschance von frühzeitigen Integrationsmaßnahmen auszuschließen? Integration bzw. Integrationsförderung erst ab Anerkennung? Gerade bei afghanischen Asylantragstellern ist die Verfahrensdauer besonders lang. Und am Ende bleibt dann doch eine erquickliche Zahl im Land. Der Gesetzgeber will hier aber keine Farbe bekennen, zu groß ist die Angst vor einer pull-Wirkung.
Integrations-Dilemmata und situative Vielfalt
Daniel Thym hat das Dilemma, vor das sich der Gesetzgeber (und dann auch die Exekutive) gestellt sieht, kürzlich (NVwZ 2015, S. 1625, 1627) wie folgt beschrieben: Ein solches ergibt sich nämlich, „wenn eine Regelung [wie eben die Zugangsermöglichung zu Integrationskursen vor der asylrechtlichen Anerkennung; Anm. d. Verf.] aus integrationspolitischen Gesichtspunkten als sinnvoll erscheint, dieselbe Maßnahme aber eine spätere Abschiebung erschweren und, darüber hinaus, als Pull-Faktor einen Anreiz darstellen kann, dass weitere Personen sich Deutschland als Zielland aussuchen.“
Man kann hier von einem Integrations-Dilemma sprechen. Und klar ist: Je besser die Integration schon während des Verfahrens klappt, desto unschicklicher erscheint die spätere Abschiebungsentscheidung nach negativer Asylentscheidung. Insofern kann man die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers, nur bei guter Bleibeperspektive die Schaffung vollendeter Integrationstatsachen zu befördern, durchaus nachvollziehen.
Bei Gruppen wie den Afghanen erscheint aber mehr Feinsteuerung geboten. So könnte man doch erwarten, dass das BMAS per Verwaltungsvorschrift feinere Kriterien vorgibt (z.B. Herkunftsregion). Und ganz eigenartig mutet es an, wenn an anderer Stelle dann doch auf anerkennungsunabhängige (Früh-) Integration gesetzt wird.
Im Entwurf des Integrationsgesetzes finden sich einerseits Normvorschläge, die an die o.g. Wendung „rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten“ anknüpfen (§ 132 Abs. 1 S. 1 SGB I-E. zur Erstreckung verschiedener Arbeits- und Ausbildungsförderinstrumente auf bestimmte Asylbewerber), andererseits werden Pfade ausgebaut, die hiervon abstrahieren (§ 60a Abs. 2 S. 4-6 AufenthG-E.: Aufenthaltssicherheit zumindest per Duldung für die gesamte Dauer einer betrieblichen Ausbildung). Da letzteres begrifflich an die „persönlichen Gründe“ des Ausländers angekoppelt ist, wird die Bleibeperspektive ersetzt durch die Ausbildungsperspektive. Bei erfolgreichem Abschluss soll sogar eine Aufenthaltslegalisierung im Fall des Vorliegens eines ausbildungsadäquaten Arbeitsvertrags erfolgen (§ 18a Abs. 1a AufenthG-E.).
Eine ausbildungsbezogene Duldung sieht § 60a Abs. 2 S. 4 AufenthG übrigens auch jetzt schon vor, allerdings nicht zwingend gekoppelt an die Dauer des Ausbildungsvertrags und zudem nicht zugänglich für Personen über 21 Jahren und solche, die aus sicheren Herkunftsstaaten stammen. Implizit (und unwiderlegbar) nimmt der Gesetzgeber hier (noch) an, dass jedenfalls die ganz schlechte Bleibeperspektive von Personen v.a. aus Westbalkan-Staaten diesen Integrationspfad versperren soll.
Dieser Ausschluss soll nun offenbar zusammen mit der Altersgrenze gekippt werden, ohne dass dies in der Entwurfsbegründung erläutert wird. Ein Asylsuchender aus Serbien kann dann also nach Ablehnung seines Asylantrags (vorher gilt für betriebliche Ausbildungen § 61 Abs. 2 S. 4 AsylG) über einen Ausbildungsplatz seinen persönlichen Spurwechsel versuchen. Kein Pull-Faktor mehr? Oder der Versuch, einen Gleichklang zu § 26 Abs. 2 BeschV (d.h. zur generellen Möglichkeit der erwerbsbezogenen Zuwanderung von Personen aus Westbalkan-Staaten) herzustellen? Warum dann hier keine zeitliche Befristung der Regelung? Es scheint, als gerate der Normsetzer in Anbetracht der sich selbst gesetzten Aufgabe, in Bezug auf die Schutzsuchenden „die unterschiedlichen Lebenssituationen und Perspektiven zu berücksichtigen“ (Entwurfsbegründung, S. 23), zunehmend ins Schlingern.
Noch eine Option: gar nicht erst kommen
Wer von denen, die kommen, soll also bleiben dürfen, wer vielleicht, wer eigentlich nicht, dann aber wieder doch? Die Debatten, die uns unter dem Begriffsdach der ‚Integration‘ bevorstehen, werden es in sich haben.
Zumal: die Herkulesaufgabe der Integration Hunderttausender scheinen sich Politik und Gesellschaft jetzt noch zuzutrauen angesichts des massiven Rückgangs der Ankünfte in den letzten Monaten. Wird dies halten? Die Türkei erscheint (zunehmend) als unsicherer Kantonist, das Mittelmeer wird immer mehr zum Massengrab und das deutet auch auf die Möglichkeit steigender Fallzahlen hin.
Was also, wenn die Ankünfte wieder massiv zunehmen sollten? Die Österreicher haben bekanntlich die ausdrückliche (S. 27 ff.) Aktivierung des Art. 72 AEUV legislativ vorbereitet. Die zuvor von der österreichischen Regierung beauftragten Gutachter Walter Obwexer und Bernd-Christian Funk haben die Möglichkeit der Suspendierung sekundärrechtlicher Bindungen dargelegt (und hierbei, S. 34, Fn. 121, die grenzrechtliche Fiktion aus unserer Debatte vom Jahresanfang zurückgewiesen). Man hält allerdings die Aktivierung des Art. 20 Abs. 4 Dublin III-VO bei solchen Grenzkontrollen für möglich, die direkt „auf der Grenzlinie“ stattfinden (S. 34). Meine Phantasie reicht allerdings nicht aus, um sich dies praktisch vorzustellen. Die Zurückweisungsoption – so aber die Botschaft – steckt im Detail.
Der Entwurf zum Integrationsgesetz enthält hier nun auch einen interessanten Passus. Bislang besteht Rechtsunsicherheit wegen § 55 Abs. 1 S. 3 AsylG, wonach die Gestattung des Aufenthalts nicht schon mit Asylgesuch sondern erst mit förmlicher Asylantragstellung eintritt, wenn die Schutzsuchenden unerlaubt aus einem sicheren Drittstaat einreisen. An die Gestattung knüpfen aber (bei entsprechender Bleibeperspektive) integrationsrelevante Folgerechte. Da unklar ist, ob auch diesbezüglich eine Überlagerung des § 26a AsylG infolge der einschlägigen Dublin-Zuständigkeiten (Stichwort: Zuständigkeitsfeststellungsverfahren usf.) greift, erscheint der Status der Masse der Schutzsuchenden zwischen Registrierung und Asylantragstellung auch trotz des mit dem zweiten Asylpaket eingeführten Ankunftsnachweises (§ 63a AsylG) nicht eindeutig.
Hier soll nun in § 55 AsylG-E. klargestellt werden, dass stets ab Ausstellung des Ankunftsnachweises die Gestattungswirkung eintreten soll. S. 3 soll künftig anordnen, dass die Gestattung aber erst ab Antragstellung entsteht, wenn kein solcher Nachweis ausgestellt wird. Wann soll das der Fall sein? Die Antwort hierauf findet sich in der Entwurfsbegründung (S. 59): „Die Rechtslage im Hinblick auf § 18 Absatz 2 und 3 AsylG bleibt unverändert.“ Ähnliches hatte die Bundesregierung schon im Januar verlautbaren lassen: „Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige kommen derzeit nicht zur Anwendung (§ 18 Absatz 2, Absatz 4 AsylG).“
Man hält sich also alle Optionen offen. Wenn die Bundesregierung den Art. 72 AEUV ‚ziehen’ sollte, kann es Österreich wieder als sicheren Drittstaat gelten lassen. Dann wird zurückgewiesen. Dann gibt es keinen Ankunftsnachweis und keine Gestattung. Dann gibt es keine Perspektive, keine Integration. Kommen, gehen, bleiben? Der Gesetzgeber kann sich nicht entscheiden.