16. April 2018

Helmut Philipp Aust

Völkerrechtswidrig­keit benennen: Warum die Bundesregierung ihre Verbündeten für den Syrien-Luftangriff kritisieren sollte

Fast haben wir uns schon daran gewöhnt. An das Leiden in Syrien ohnehin. An die Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft, diesen schon sieben Jahre andauernden Konflikt beizulegen. An die unfassbare Grausamkeit, mit der auf praktisch allen Seiten in diesem Krieg vorgegangen wird. An die Beteiligung der externen Mächte auf unterschiedlichen Seite. An den Einsatz von Chemiewaffen. Und an die militärische Reaktion auf den Einsatz von Chemiewaffen.

Wie schon 2017 haben die Vereinigten Staaten auf den Einsatz von Chemiewaffen im Syrienkonflikt mit militärischer Gewalt reagiert. Am 13. April 2018 konnten sie dabei auf die Unterstützung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs zählen (für eine erste Reaktion auf dem Verfassungsblog hier). Die Bundesrepublik Deutschland hat sich an diesen Angriffen nicht beteiligt. Die Bundesregierung hat aber verlauten lassen, dass sie die Luftangriffe für „verhältnismäßig und erforderlich“ halte. Solche Stellungnahmen sind für die Weiterentwicklung des Völkerrechts potentiell bedeutsam. Das Völkerrecht ist eine dezentrale Rechtsordnung – ohne zentrale Rechtssetzungs- und Durchsetzungsinstanz. Das Recht kann sich durch den Austausch von Rechtspositionen weiterbilden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Rechtspositionen sich auf eine konkrete Praxis beziehen.

Das Argument (hier und hier) der eingreifenden Mächte lautet: Wir dürfen den Einsatz von Chemiewaffen nicht tolerieren. Eine zentrale Norm der internationalen Beziehungen muss verteidigt werden. Andere Kanäle, auf den Syrienkonflikt einzuwirken, waren aussichtslos. Es bliebe nur die Möglichkeit des Einsatzes von Waffengewalt, um eine „rote Linie“ zu verteidigen, die Präsident Obama 2013 zwar behauptet, dann aber nicht durchgesetzt hat.

Auf den ersten Blick liest sich diese Argumentation wie eine auch völkerrechtlich geprägte Rechtfertigung. Immerhin soll eine Norm verteidigt werden. Aber wichtig sind hier die Details: Von den drei eingreifenden Staaten hat nur das Vereinigte Königreich auch eine klare Rechtsbehauptung aufgestellt. Es gehe davon aus, dass der Angriff auf die Chemiewaffenbasen und anderen Einrichtungen vom Völkerrecht gedeckt sei. Die Vereinigten Staaten und Frankreich haben ihre Argumente dagegen in eine Sprache der Politik und Moral gekleidet. Es ist die Rede davon, dass die Militärschläge angemessen und legitim, notwendig und erforderlich gewesen seien. Von einer Rechtsbehauptung keine Spur.

Wie rechtfertigt nun das Vereinigte Königreich sein Eingreifen? Downing Street No. 10 hat die eigene Rechtsposition am 14. April 2018 in einem „Policy Paper“ dargelegt. Darin heißt es, dass das Völkerrecht es erlaube, in Ausnahmefällen, Maßnahmen zu ergreifen, um überwältigendem menschlichen Leiden abzuhelfen. Die Rechtsgrundlage dafür sei die Doktrin der humanitären Intervention, für die drei Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen seien. Erstens sei es erforderlich, dass die internationale Gemeinschaft als Ganzes überzeugt sei, dass es eine extreme humanitäre Notlage gebe, der unmittelbar und unverzüglich abzuhelfen sei. Zweitens dürfe es keine praktikable Alternative zur Gewaltanwendung geben. Und drittens müsse die Gewaltanwendung notwendig und verhältnismäßig sein.

Diese Voraussetzungen sieht das Vereinigte Königreich als erfüllt an, trotz entgegenstehender Positionen Russlands und Syriens. Durch die Blockade des UN-Sicherheitsrates gebe es zudem keine andere Handlungsmöglichkeit, und die gezielten Angriffe auf die Infrastruktur für den Chemiewaffeneinsatz würden sich auch als notwendig und verhältnismäßig darstellen.

Nach derzeitigem Völkerrecht kann diese Argumentation nicht überzeugen. Zu oft hat sich eine klare Mehrheit der Staaten gegen die Möglichkeit einer unilateralen, das heißt nicht vom UN-Sicherheitsrat ermächtigten humanitären Intervention ausgesprochen. Besonders deutlich wurde dies nach der Kosovo-Intervention 1999 und sechs Jahre später im Rahmen der Reformdiskussionen auf UN-Ebene, als die Ausübung der Schutzverantwortung durch die internationale Gemeinschaft an die Voraussetzungen eines Mandats des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta geknüpft wurde. Selbst wenn man die britische Rechtsposition akzeptieren würde, würden sich weitere Fragen nach der Kohärenz der Argumentation stellen. Sind die Militärschläge wirklich geeignet gewesen, weiteres Leiden zu verhindern? Ist den mutmaßlich zu besorgenden weiteren zukünftigen Opfern des Syrienkonflikts mit diesem Eingriff gedient?

Als Präzedenzfall für die humanitäre Intervention taugt der Einsatz der Waffengewalt am vergangenen Freitag somit nicht. Viel eher stellt er sich als Rückkehr zu einer Form der bewaffneten Repressalie dar (so auch Andreas Kulick hier), die das Völkerrecht eigentlich überwunden geglaubt hatte. Das umfassende Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta erlaubt militärische Gewaltanwendung nur in zwei Ausnahmefällen, die hier beide nicht vorliegen. Weder hat der UN-Sicherheitsrat Gewaltanwendung autorisiert, noch können sich die westlichen Mächte auf ein Recht zur Selbstverteidigung stützen.

Gleichwohl muss die britische Position ernst genommen werden. In ihr liegt eine Rechtsbehauptung. Sie zielt auf eine Veränderung des Völkerrechts ab. Durch die Offenheit und Flexibilität der Völkerrechtsordnung kann sich das Völkerrecht wandeln, auch durch informelle Prozesse, die sich aus einer Mischung aus Praxis und Rechtsüberzeugung zusammensetzen. Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler sprechen hier von nachfolgender Praxis, die zur Auslegung eines Vertrages herangezogen werden kann – hier der UN-Charta – und von einer Fortentwicklung des ungeschriebenen Völkergewohnheitsrechts.

Bisher gibt es wenig Anzeichen dafür, dass sich eine Mehrheit der Staaten dafür entscheiden würde, dem britischen Vorstoß Folge zu leisten. Besorgniserregend ist es aber gleichwohl, dass es außer den „üblichen Verdächtigen“ Russland, Syrien und Iran kaum Staaten gibt, die das westliche Eingreifen in Syrien als das benennen, was es ist: einen Völkerrechtsverstoß. Politisch stoßen die Angriffe auf die syrischen Chemiewaffenbasen auf breite Zustimmung, was auch 2017 schon der Fall war.

Die Bundesregierung betont gerne, dass Deutschland für eine regelbasierte internationale Ordnung stehe. Das völkerrechtliche Gewaltverbot ist ein zentraler Eckpfeiler dieser Ordnung. Es zu verteidigen sollte Anliegen der deutschen Bundesregierung sein – auch gegenüber den westlichen Verbündeten. Dabei muss sich die Bundesregierung nicht mit Russland gemein machen. Im Gegenteil: Die Glaubwürdigkeit der richtigen Politik der Nichtanerkennung der Annexion der Krim hängt auch davon ab, dass der Westen nicht mit zweierlei Maß misst. Ein Unrecht rechtfertigt dabei kein anderes. Russlands Politik in der Ukraine wird nicht dadurch völkerrechtskonform, dass westliche Staaten in Syrien ebenfalls gegen das Völkerrecht verstoßen. Die Überzeugungskraft einer Politik, die auf Einhaltung des Völkerrechts pocht, hängt aber davon ab, dass Doppelstandards möglichst vermieden werden.

Natürlich kann auch die Bundesregierung zu der Auffassung kommen, dass am völkerrechtlichen Gewaltverbot in seiner bisherigen Form nicht festgehalten werden soll. Dann sollte sie aber auch diese Rechtsposition klar artikulieren und darlegen, ob sie einer Doktrin der humanitären Intervention oder der Rückkehr bewaffneter Repressalien das Wort reden möchte. Es wäre dann aber nicht mehr die Völkerrechtsordnung, die wir kennen.

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