30. April 2018

Matthias Ruffert

Common sense statt strikte Dogmatik? Zutreffendes aus Karlsruhe zu Stadionverboten

Sich heute auf ein grundrechtsdogmatisches Thema einzulassen, etwa für eine verfassungsrechtswissenschaftliche Qualifikationsschrift, ist tendenziell undankbar: Zu viele Fragen werden schon lange diskutiert, zu viele Problem sind schon lange einer Lösung zugeführt worden oder verfügen zumindest über einen gesicherten Streitstand, zu viele Grundrechtstheorien lassen den Überblick verlorengehen. Auch bei der „Drittwirkung der Grundrechte“ – der noch von Hans-Peter Ipsen geprägte Begriff sollte besser durch „Privatrechtswirkung“ ersetzt werden –, gibt es seit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Eheverträgen keine signifikante neuere Entwicklung, auch nicht im Schrifttum.

Ein banaler Sachverhalt ruft jedoch ein Problem auf, für das es bislang zwar stets allseits konsentierte Lösungsansätze auf der Grundlage des „gesunden Menschenverstandes“ zu geben scheint, aber keine ebenso akzeptierte verfassungsrechtsdogmatische Marschroute. Es geht um die Privatrechtswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG), zu der man auch in der – soweit ersichtlich – letzten Habilitationsschrift zum Thema, die immerhin auch schon vor ca. 17 Jahren erschienen ist, wenig Zufriedenstellendes findet (S. 173 ff.).

Nach einem Spiel in der „MSV-Arena“ (der staunende Laie nimmt zur Kenntnis, dass es sich hierbei um das Stadion des Fußballvereins von Duisburg handelt, der dereinst unter dem Namen „Meidericher Spielverein 02 e.V. Duisburg“ gegründet wurde) wird ein 16jähriger Fan von „Bayern München“ (das weiß auch der Laie: das ist der Branchenprimus, jedenfalls in Deutschland) in einer Gruppe von gewaltbereiten Randalierern gefilmt, die zur „Ultra“-Fangruppe mit dem irritierend-unsympathischen Namen „Schickeria“ gehören. Es entsteht der übliche erhebliche Sach- und Personenschaden. Zwar wird das Strafverfahren wegen Landfriedensbruchs aufgrund von Geringfügigkeit nach § 153 StPO eingestellt. Jedoch erlässt der MSV Duisburg, bevollmächtigt durch den Deutschen Fußball Bund (DFB) gegen den Fan ein bundesweites Stadionverbot für zwei Jahre auf der Grundlage entsprechender (privatrechtlicher) Verbandsregelungen. Bayern München schließt ihn aus dem Verein aus und kündigt die Dauerkarte. Der Betroffene klagt erfolglos durch alle Instanzen, und nun liegt der Senats(!)beschluss zu seiner Verfassungsbeschwerde vor.

In der Sache suggeriert der common sense: Richtig so, aber natürlich nur dann, wenn es sich zweifelsfrei um einen Randalierer handelt und das Stadionverbot nicht vorgeschoben wird, um willkürlich eine unliebsame Person loszuwerden. Dazu sollte man den Betroffenen vorher anhören. Rechtlich begründen lässt sich das aber nicht besonders leicht, denn es gibt keine gesetzliche Regelung für solche Situationen, allein die erwähnten privatrechtlichen Verbandsregelungen, die nur verbandsintern und nicht einmal für das Verhältnis zu den Stadionbesuchern gelten. Daher zieht schon der BGH Art. 3 Abs. 1 GG heran, um ein Willkürverbot zu formulieren, und das Bundesverfassungsgericht greift dies auf, entnimmt ihm aber – insoweit abweichend vom BGH – auch eine Anhörungspflicht. Auf diese kam es im konkreten Fall nicht an, denn der Betroffene konnte sich in mehreren Instanzen zum Verbot äußern, und mittlerweile sind die Verbandsregelungen in diesem Punkt angepasst worden.

Für die Privatrechtswirkung der Grundrechte wird seit geraumer Zeit in der Verfassungsrechtswissenschaft nicht mehr allein mit der Ausstrahlungsmetapher des Bundesverfassungsgerichts aus dem Lüth-Urteil gearbeitet. Ausgehend von Claus-Wilhelm Canaris und Josef Isensee werden die grundrechtlichen Schutzpflichten zur Begründung jener Wirkung bemüht: Privatrechtsgesetzgeber und ordentliche Gerichtsbarkeit in Zivilsachen schützen Grundrechtsgüter durch gesetzliche Regelungen und Urteile im Zivilprozess. In der Abwägung mit ebenfalls betroffenen Abwehrrechten wird ein Ausgleich erstrebt. Über- und Untermaßverbot markieren den Rahmen dieses Abwägungsprozesses.

Diese Konstruktion funktioniert auch für Gleichheitsrechte, jedenfalls für die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Darum geht es hier zum Glück nicht (was auch das Bundesverfassungsgericht explizit feststellt)  – ersparen wir uns das Phantasieren über unappetitliche Beispielsfälle. Hinzu kommt, dass das Feld der Bekämpfung von Diskriminierungen über weite Strecken vom europäischen Gesetzgeber bestellt worden ist. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG passt indes nicht so recht ins Schema. Zum einen lässt sich formale Gleichbehandlung nur schwer als Schutzgut ausbuchstabieren. Zum anderen gibt es auch einen guten verfassungsrechtlichen Grund, den das Bundesverfassungsgericht zu Recht an den Beginn seiner Überlegungen zu Art. 3 Abs. 1 GG stellt – die Privatautonomie: „Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie wann unter welchen Bedingungen welche Verträge abschließen und wie sie hierbei auch von ihrem Eigentum Gebrauch machen will.“ Die Privatautonomie setzt Willkür voraus (stat pro ratione voluntas). Glücklicherweise nutzt das Bundesverfassungsgericht den Fall nicht, sich einer immer häufiger vertretenen kollektivistischen Sicht der Grundrechte anzuschließen, die nicht mehr den einzelnen in den Mittelpunkt stellt, sondern gesellschaftliche Interessensphären voneinander abgrenzt. Und glücklicherweise bleiben auch die Flaschen mit dem glykolbelasteten Wein im Keller (hoffentlich sind da wirklich keine mehr).

Bliebe man bei der zitierten Feststellung, stimmte aber das Ergebnis nicht. Dann könnte auch jemandem, der sich einmal abfällig über den Profifußball in einem Blogbeitrag geäußert hat, grundlos von einem Stadionbesuch ausgeschlossen werden (man weiß ja nie!), oder auch deswegen, weil er mit einem Randalierer verwechselt wird, der ihm täuschend ähnlich sieht. Das Bundesverfassungsgericht rettet sich in das richtige Ergebnis mit der prätorischen Formel der „spezifischen Konstellationen“. Was macht den Fall zu einem besonderen? Es ist der Umstand, dass ansonsten Fußballspiele jedermann ohne Ansehen der Person offenstehen und sich dadurch „Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“ ausdrückt. Das sei vergleichbar dem Ausschluss durch einen Monopolisten oder der Situation, indem der einzelne der Entscheidungsmacht einer strukturell überlegenen Partei ausgesetzt ist. Der Anspruch auf Versorgung durch den Monopolisten, der eine existenzsichernde Leistung anbietet, ist in der Zivilrechtsprechung und im dazugehörigen Schrifttum seit Jahrzehnten anerkannt, die Formel von der „strukturellen Überlegenheit“ ist seit ihrem ersten Auftauchen in der Handelsvertreterentscheidung und ihrem Höhepunkt im Bürgschaftsbeschluss vielfach rezipiert worden, leider meistens unreflektiert. Dogmatisch begründen lässt sich die benötigte Wirkung von Art. 3 Abs. 1 GG nur schwer; ihr Gebrauch ist aber im konkreten Fall ohne jeden Zweifel richtig. Das liegt weniger daran, dass nach dem IPWSKR 1966 Sportveranstaltungen zum kulturellen Leben gehören (der Senat zitiert Art. 15a), worauf es einen Anspruch geben soll. Es liegt vielmehr an der tatsächlichen Konstellation. Die Machtposition des Profifußballs sucht ihresgleichen (in Deutschland, anderenorts mag es noch größere Extreme geben). Die Finanzierung durch die öffentliche Hand, seien es kommunale oder Landeszuschüsse für Stadionbau und -unterhaltung oder die horrenden Ausgaben aus den Haushalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, markiert nur einen Anhaltspunkt. Um das Ritual des allwochenendlichen Ligabetriebs und die alle zwei bzw. vier Jahre wiederkehrenden Länderspielwettbewerbe zu ermöglichen, nimmt die öffentliche Meinung Phänomene in Kauf, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen höchstwahrscheinlich skandalisiert würden oder eben nicht möglich wären – unabhängig davon, ob einzelne Vorwürfe berechtigt sind, oder nicht: exzessive Gehälter zahlreicher Sportler (und sog. „Ablösesummen“ im mittlerweile dreistelligen Millionenbereich), Korruptionsvorwürfe bei der Vergabe einer Weltmeisterschaft, die Wiederwahl eines Steuerstraftäters zum Vereinspräsidenten nach verbüßter Freiheitsstrafe, eine machtvolle Verbandsgerichtsbarkeit, die Erwartung kostenlosen Polizeischutzes selbst bei sog. „Hochrisikospielen“. Die Mehrheit der Fußballfreunde dürfte das Amt des Bundestrainers für ein Staatsamt halten (originellerweise eines, das sie in der Selbstwahrnehmung viel besser ausfüllen könnten als der aktuelle Amtsinhaber – wer hielte sich hingegen für den besseren Bundeskanzler?).

Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht. Gesellschaftlicher Macht diesen Umfangs ist nur durch das Recht beizukommen – das ist hier die „spezifische Konstellation“. Zu Recht ist in den Reaktionen in der Presse die Parallele zu den „sozialen Medien“ im Internet gezogen worden. Das Gericht vollzieht nicht eine akademische Debatte nach (das Urteil kommt ohne ein einziges Literaturzitat aus), sondern es entscheidet einen Fall. Es behält seine ungenaue Ausstrahlungs- und Wertentscheidungsargumentation bei, die ihm eben genau dieses beherzte Entscheiden im Einzelfall ermöglicht. Jedenfalls ist diese Kontinuität im Diffusen sympathischer als die unbeholfen wirkende Nonchalance des EuGH, mit der dieser kürzlich die von ihm selbst für das Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten entwickelte unmittelbare Wirkung des Primärrechts für die Gleichheitsrechte der GRCh auf das Verhältnis unter Privaten übertragen hat.

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