In der Flüchtlingskrise hat sich der Glaubenssatz festgesetzt, Deutschland habe seine Grenzen für Flüchtlinge geöffnet. Diese angebliche „Grenzöffnung“ wurde politisch als „Herrschaft des Unrechts“ diffamiert und von manchen deutsch-national geneigten Staatsrechtslehrern fälschlich als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft. Bayern fordert die vollständige Zuständigkeit für den Grenzschutz an der deutschen Binnengrenze zu Österreich und will massiv Beamte zu Durchführung dieser Aufgabe einstellen. Die Fraktionsgemeinschaft der Union und die Koalition drohen an der Frage zu zerbrechen, ob Flüchtlinge (und ggf. welche) an der Grenze zu Österreich zurückgewiesen werden dürfen. Der Streit um die Frage, wie geschlossen diese Binnen-Grenze europarechtlich sein darf, setzt aber eine wichtige Prämisse voraus, von der nur wenige reden: Die systematische Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich sind (immer noch) rechtmäßig. Genau diese Prämisse aber ist falsch: Es gibt ein grundrechtsgleiches Recht der Unionsbürger, sich ohne Grenzkontrollen im gemeinsamen Europa („Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) bewegen zu können. Und dieses Recht wird durch den Abwehrkampf gegen Flüchtlinge an der EU-Binnengrenze bereits seit längerem rechtswidrig beeinträchtigt.
Abgeschaffte Grenzen
Seit mehr als 30 Jahren ist in Europa (jedenfalls für den Schengen-Raum) anerkannt, dass die Binnengrenzen und ihre Kontrolle in der zusammenwachsenden Union ein Fremdkörper sind. 1984 versprachen Kohl und Mitterand:
„Wir werden die Grenzen zwischen unseren Ländern abschaffen.“
Seit langem ist diesen Versprechen zumindest im Schengen-Raum im Wesentlichen eingelöst. Art. 22 des Schengener Grenzkodex (GK) sagt es heute mit folgenden Worten:
„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“
Zwar lässt der Schengener Grenzkodex (Art. 25 ff) zeitlich befristet und unter hohen Anforderungen Ausnahmen von dieser Freiheit sichernden Regelung zu. Jedenfalls die zulässigen Höchstfristen sind jedoch längst überschritten.
Bezweifeln ließe sich schon, dass die Voraussetzungen (vgl. Art. 25 Abs. 1 GK: „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“; Art. 29 Abs. 1 GK: „Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet“) für diese Ausnahmen in der „Flüchtlingskrise“ vorlagen und noch vorliegen. Denn der 26. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex sagt ausdrücklich, dass „Migration und das Überschreiten der Außengrenzen durch eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen … nicht an sich als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit betrachtet werden“ sollte.
Maximal zwei Jahre
Diese Frage mag aber dahinstehen. Denn eindeutig ist jedenfalls, dass die zeitlichen Restriktionen, die der Schengener Grenzkodex für solche den Raum der Freiheit beschränkende Maßnahmen setzt, bereits seit langem rechtswidrig durchbrochen werden. Nach Art. 25 Abs. 4 Satz 2 GK kann der Gesamtzeitraum solcher Maßnahmen maximal „auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden“. Deutsche Grenzkontrollen zu Österreich sind aber seit dem 13.9.2015 durchgängig bis heute (letzte Anordnung noch gültig bis 11.11.2018) zugelassen worden (Übersicht); also insgesamt für einen Zeitraum von circa 38 Monaten und damit für deutlich mehr als die erlaubten maximalen zwei Jahre.
Begründung war dabei immer der hohe Zugang von Flüchtlingen und dessen Folgen („big influx of persons seeking international protection“; „significant secondary movements“; „Sekundärbewegungen irregulärer Migration“). Ein Teil dieser Maßnahmen (bis zum 13.9.2015 und wieder ab dem 11.11.2018) fußte dabei allein auf Art. 25 GK. Im dazwischen liegenden Zeitraum wurden die Grenzkontrollen dann für 18 Monate nach Art. 29 GK aufgrund einer Empfehlung des Rates (Art. 29 Abs. 2 GK) zugelassen.
Mitgliedstaaten, Rat und Kommission könnten zu ihrer Rechtfertigung allenfalls anführen, diese Anordnungen fußten auf zwei unterschiedliche Rechtsgrundlagen – zunächst und zuletzt Art. 25 GK, dazwischen Art. 29 GK –, weshalb die Zeiten nicht zusammengerechnet werden könnten. Aber das wäre Augenauswischerei. Während des vermeintlichen Unterbrechungszeitraums bestand die gleiche Lage fort, und Grenzkontrollen waren mit der gleichen materiellen Begründung zugelassen. Eine solche Argumentation würde auch nicht mit dem Wortlaut und der Systematik des Ausnahme-Regime der Art. 25 und 29 GK übereinstimmen. Denn Art. 25 Abs. 4 GK stellt einen klaren Zusammenhang zwischen den beiden Vorschriften her. Ist der Höchstzeitraum für Anordnungen nach Art. 25 GK überschritten (Art. 25 Abs. 4 S. 1 GK: „höchstens sechs Monate“), so kann nach Art. 25 Abs. 4 S. 2 GK „dieser Gesamtzeitraum gemäß Art. 29 Abs. 1 auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden“. Voraussetzung für diese Verlängerung ist dann nach Artikel 29 Abs. 1 GK, dass das Verfahren „gemäß Absatz 2 des vorliegen Artikels“ beachtet wurde.
Art. 29 Abs. 2 GK ist daher konzeptionell gerade auch Teil eines Verlängerungsregimes für Maßnahmen, die zuvor bereits auf der Grundlage des Art. 25 GK angeordnet worden waren, und führt damit nicht zu einer Durchbrechung des gesetzten Gesamtzeitraums. Auch in diesem Fall bleibt es dabei bei der deutlichen Aussage in Art. 25 Abs. 4 GK, dass die Grenzkontrollen nicht wegen der gleichen Bedrohungslage „verlängert“ werden dürfen. Dem lässt sich auch nicht Art. 29 Abs. 5 GK entgegen halten. Denn der Hinweis („lässt … unberührt“) in dieser Vorschrift auch auf Art. 25 GK kann nach Sinn und Zweck des Art. 25 Abs. 4 GK nur Wirkung entfalten, wenn es nicht um eine „Verlängerung“ geht, sondern eine neue Tatsachengrundlage die Basis einer neuen Zulassung von Grenzkontrollen bieten soll (etwa statt Flüchtlingszustrom eine terroristische Bedrohung).
Der Höchstzeitraum von 24 Monaten gilt dabei nach Art. 29 Abs. 1 auch dann, wenn keine nationalen Maßnahmen vorangegangen sind, sondern direkt mit einer Empfehlung des Rates nach Art. 29 Abs. 2 GK gestartet wird. Denn nach dieser Norm können zunächst für einen Zeitraum von sechs Monaten Grenzkontrollen verfügt werden, die dann maximal dreimal um jeweils sechs Monate verlängert werden können, also auch hier für eine Höchstdauer von 24 Monaten. Die These, dass im Anschluss nach dem Ablauf dieser Frist oder über diese Frist hinausgehend, wieder nationale Maßnahmen (nach Art. 25 GK) verfügt werden können sollen, würde die Logik dieser Regelung auf den Kopf stellen. Denn dann wären im stetigen Wechsel der Inanspruchnahme von Art. 25 und 29 GK ewige Grenzkontrollen denkbar.
Anhaltender und systematischer Rechtsbruch
Schon die erste nationale Anordnungsphase (bis 13.5.2016) nach Art. 25 GK überschritt den für die Zulässigkeit derartiger Maßnahmen in § 25 Abs. 4 S. 1 GK gesetzten Zeitraum von sechs Monaten, da diese Phase 8 Monate umfasste.
Bereits mit der nachfolgenden Verlängerung der Grenzkontrollen nach Art. 29 GK für insgesamt 18 Monate wurde auch die Frist für die Höchstdauer von 24 Monaten in § 25 Abs. 4 GK durchbrochen.
Die hieran anschließende Phase erneuter nationaler Maßnahmen nach Art. 25 dauert bereits länger als sechs Monate und soll (mindestens) noch bis 11.11.2018 dauern. Dies verstößt bereits für sich genommen erneut gegen Art. 25 Abs. 4 S. 1 GK („höchstens sechs Monate“). Da diese Phase mit der vorangegangenen Phase von Grenzkontrollen nach Art. 29 GK insgesamt 30 Monate dauern soll, liegt hierin auch eine erneute Missachtung der Gesamt-Höchstdauer von 24 Monaten, die aus Art. 25 Abs. 4 S. 2 und 29 Abs. 1 GK folgt. Denn diese Höchstgrenze darf auch nicht durchbrochen werden, indem man zwischen den beiden Regelungen hin und her wechselt, da diese Höchstgrenze dann jede Wirkung verlöre.
Aus dem gleichen Grunde (keine Kumulation der Rechtsgrundlagen) ist schließlich als gravierendster Verstoß die Zulassung von Grenzkontrollen im Gesamtzeitraum zwischen dem 13.9.2015 und heute weit jenseits der Obergrenze (24 Monate) für insgesamt 38 Monate festzuhalten.
Nicht jeder dieser Verstöße hat das gleiche Gewicht. So mag die erste kurzfristige Überschreitung der zeitlichen Grenze um zwei Monate angesichts der neuen Dimension des Phänomens vielleicht noch zu verzeihen – wenn auch nicht zu rechtfertigen – sein. Der Gesamturteil lautet aber eindeutig: anhaltender und systematischer Rechtsbruch. Die Kontrollen sind nunmehr für mehr als drei Jahre zugelassen worden, obwohl der Schengener Grenzkodex eine absolute Obergrenze von zwei Jahren vorsieht. Um es zuzuspitzen: Die Grenze ist nicht rechtswidrig geöffnet, sondern unrechtmäßig verschlossen.
Jenseits der Rechtsgrundlagen wird mit den Kontrollen gegenwärtig in eine grundlegende Freiheit der Unionsbürger eingegriffen. Wahrscheinlich wissen das auch alle Beteiligten (Mitgliedstaaten, Rat, Kommission). Dies dürfte ein Grund dafür sein, dass die Kommission bereits einen Vorschlag gemacht hat, um das Ausnahmeregime der Art. 25 ff. GK zu Lasten der Freiheit aufzuweichen. Dieser Vorschlag wird derzeit im Rat intensiv diskutiert; womöglich mit einer noch restriktiveren Tendenz. Dies mögen manche für politisch unausweichlich halten. Die „europäischen Völker“ – und also wir alle – mögen aber bedenken, dass dies das Gegenteil des Versprechens in der Präambeln der Europäischen Verträge ist, die „Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“. Es ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass das Erbe großer Europäer wie Kohl und Mitterand zunehmend missachtet wird. Das sollte Pro-Europäer gerade in Frankreich und Deutschland zu Widerspruch anspornen. Uns muss klar sein, was wir schon verloren haben und welche Verluste noch drohen.