4. Juli 2018

Mathias Hong

Die „Fiktion der Nichteinreise“ als Grundrechtseingriff durch normativen Tatsachenausschluss

Die Einigung zwischen CDU und CSU vom 2. Juli 2018 sieht eine „Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise“ vor. Dana Schmalz hat bereits überzeugend dargelegt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte „von der Fiktion der Nichtanwesenheit von Personen wenig beeindruckt sein und Rechtsverletzungen gegebenenfalls rügen“ dürfte – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es der Menschenwürde zuwiderlaufen würde, wenn durch eine solche Konstruktion die territoriale Bindung an die Grundrechte ausgehebelt und Menschen ihrer Rechte beraubt werden könnten.

Grundrechtsdogmatisch betrachtet entspricht dieser Diagnose der Befund, dass normative Fiktionen, die Rechte aushebeln, selbst als Eingriffe in das jeweilige Grundrecht einzuordnen sind (s. dazu näher hier, S. 194-198, s. auch S. 132-139).

Wie die Zurückweisungsdiskussion insgesamt hat auch die Idee normativer Fiktionen Vorläufer in der Debatte um die Änderung des Asylgrundrechts von 1996, die mit Art. 16a II GG ein Konzept ‚sicherer‘ Drittstaaten einführte, das das Bundesverfassungsgerichts als ein „Konzept normativer Vergewisserung“ deutete (vgl. BVerfGE 94, 49 [95 ff.]). Damals wie heute gilt unabhängig davon, ob diese Grundrechtsänderung selbst verfassungsgemäß war: Jedenfalls die Menschenwürdegarantie als Hindernis für Zurückweisungen, Ausweisungen oder Abschiebungen kann durch solche normativen Fiktionen nicht umgangen werden.

Der Rechtsordnung sind normative Vermutungen und Fiktionen zwar keineswegs fremd. Eine normative Tatsachenfeststellung, die das Nichtvorliegen grundrechtsverletzender Tatsachen mit verbindlicher Wirkung feststellen soll, greift jedoch in den Gewährleistungsinhalt des jeweiligen Grundrechts ein.

Ein Rechtsakt etwa, der mit unwiderleglicher Bindungswirkung feststellen wollte, dass in Deutschland keine Folter stattfindet, würde damit zwar nicht das rechtliche Verbot der Folter selbst beseitigen. Mit dem Versuch, das Vorliegen der Tatsachen, auf die die Norm reagieren soll, normativ auszuschließen und die Norm so gleichsam von der Wirklichkeit abzukoppeln, würde er jedoch die Wirksamkeit des Folterverbotes nicht weniger effektiv beeinträchtigen, als wenn er das rechtliche Verbot selbst beseitigt hätte.

Eine solche normative Fiktion kommt nach Zielrichtung und Wirkung einem Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinn gleich (zur Figur des funktionalen Eingriffsäquivalents s. zuletzt BVerfG, Beschl. v. 18. März 2018, 1 BvF 1/13, Rn. 28, mit den dortigen Nw.). Sie bewirkt deshalb einen Grundrechtseingriff durch normativen Tatsachenausschluss. Solche normativen Fiktionen unterliegen deshalb den üblichen Anforderungen, die die Rechtsordnung an Grundrechtseingriffe stellt.

Das Recht, nicht gefoltert zu werden, schließt auch das Recht ein, nicht nach Erlass einer normativen Fiktion gefoltert zu werden, die das Nichtstattfinden von Folter normativ ‚feststellt‘. Folter bleibt auch dann Folter, wenn sie auf Grundlage einer Fiktion der Nichtfolter stattfindet. Und eine Abschiebung in drohende Folter bleibt auch dann eine Abschiebung in drohende Folter, wenn sie als „Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise“ bezeichnet wird.

‚Normative Vergewisserungen‘ können deshalb die tatsächlichen Vergewisserungen nicht vollständig ersetzen, zu denen grundrechtsgebundene Hoheitsgewalt verpflichtet bleibt. Die Grundrechte treffen damit auch Aussagen darüber, vor welchen Tatsachen die Rechtsordnung mithilfe normativer Vermutungen und Fiktionen die Augen verschließen darf – und vor welchen nicht. Sie lassen es nicht zu, die Kenntnisnahme von Tatsachen, die eine Grundrechtsverletzung begründen, nach Belieben zu manipulieren. „Der Rechtsstaat kennt“, jedenfalls soweit es um grundrechtsverletzende Tatsachen geht, „keine von Rechts wegen jeder Widerlegung entzogenen Annahmen über die Wirklichkeit“ (vgl. abw. Votum BVerfGE 108, 129; S. 145 [149]; auch hier: Rn. 70).

Normative Fiktionen sind deshalb unwirksam, wenn sie sie das Nichtvorliegen solcher Tatsachen unwiderleglich feststellen sollen, die eine Verletzung der Menschenwürde begründen. Menschenwürdeverletzungen können nicht durch ein „mit Orwell zu sprechen: […] Konzept des institutionalisierten newspeak“ (vgl. – im Kontext des Art. 16a II GG – Lübbe-Wolff DVBl. 1996, 825 [831 l. Sp.]) auf Tatsachenebene hinwegdefiniert werden. Nichts anderes kann für jene Tatsachen gelten, aus denen sich eine Verletzung völker- oder unionsrechtlicher Zurückweisungs- und Abschiebungsverbote ergibt.

Was immer also eine „Fiktion der Nichteinreise“ auch erreichen soll – von den rechtlichen Hindernissen, die das Völkerrecht, das Europarecht und die Menschenwürdegarantie einer Zurückweisung, Ausweisung oder Abschiebung entgegensetzen, kann sie jedenfalls nicht entbinden.

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