8. Juli 2019

Josef Franz Lindner

Unwissenheit schützt vor Spende nicht?

Zum Überrumpelungsproblem der Widerspruchslösung

In der letzten Woche vor der parlamentarischen Sommerpause hat der Deutsche Bundestag erstmals über zwei konkurrierende Gesetzentwürfe zum Organtransplantationsrecht beraten: (1) den „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ der Abgeordneten Baerbock u.a. (BT-Drs. 11/19087) sowie (2) den „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung“ der Abgeordneten Spahn, Lauterbach u.a. (BT-Drs. 19/11096). Beide Gesetzentwürfe verfolgen das Ziel, die Zahl der postmortal (also nach Eintritt des Hirntodes) entnommenen Spenderorgane zu erhöhen. Der erste Entwurf bewegt sich im Rahmen des gegenwärtigen Systems der (erweiterten) Zustimmungslösung, wonach eine postmortale Organentnahme nur dann zulässig ist, wenn und soweit der Betroffene selbst oder seine Angehörigen (unter Beachtung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen) der Organentnahme zugestimmt haben. Ziel des Entwurfes ist die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Entscheidungsbereitschaft. Der zweite Entwurf hingegen zielt auf einen Systemwechsel: Eine postmortale Organentnahme ist bereits dann zulässig, wenn der Betroffene nicht widersprochen hat und auch den Angehörigen kein Widerspruch bekannt ist.  

1. Fokus der Diskussion auf der Verfassungsmäßigkeit der Widerspruchslösung

Im Zentrum der politischen, ethischen wie rechtlichen Diskussion stehen die Verfassungsmäßigkeit und die ethische Vertretbarkeit der Widerspruchslösung, insbesondere die Frage, ob es mit der Würde des Menschen und seinem Selbstbestimmungsrecht vereinbar ist, ihn zum Gegenstand einer Fiktion zu machen: Jede Person – so heißt es im Entwurf – „gilt als Organ- oder Gewebespender, es sei denn es liegt ein zu Lebzeiten erklärter Widerspruch oder ein der Organ- oder Gewebeentnahme entgegenstehender Wille vor“. Ob dies verfassungsrechtlich haltbar ist, wird das Bundesverfassungsgericht zu klären haben (vgl. auch den Beitrag von Huster an dieser Stelle). Immerhin hat es in einer (Kammer-)Entscheidung vom 18.2.1999 (1 BvR 2156/98 = NJW 1999, 3403) bereits im Hinblick auf die geltende erweiterte Zustimmungslösung, die im Falle der fehlenden Zustimmung des Betroffenen eine Zustimmung der Angehörigen ermöglicht, festgestellt: „Es verstößt nicht gegen Grundrechte, dass zur Abwehr einer postmortalen Organentnahme … ein Widerspruch erklärt werden muss“.  

2. Das Problem der „Überrumpelung“

Weniger Beachtung findet bislang ein Problem, das man als „Überrumpelungsproblem“ bezeichnen könnte. Jeder Systemwechsel hat Wechselgewinner und -verlierer. Mögliche Verlierer sind diejenigen, die von dem Systemwechsel nicht erfahren oder ihn nicht verstanden haben, sich mit ihm nicht befassen oder auf ihn nicht reagieren können. So würde nach Inkrafttreten der Widerspruchslösung jeder – im Falle seines Hirntodes – zum postmortalen Organspender, wenn er nicht rechtzeitig widerspricht, auch wenn er von der neuen Widerspruchskonzeption gar nichts weiß. Um diese verfassungsrechtlich überhaupt halten zu können, bedarf es dessen, was man die „verfahrens- und organisationsrechtliche Dimension der Grundrechte“ nennt. Der Gesetzgeber ist zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts verpflichtet, verfahrensrechtliche Vorkehrungen gegen Überrumpelungseffekte zu treffen. Diese bestehen in zeitlicher wie in inhaltlich-informatorischer Hinsicht.

3. Mehr Organe durch Prokrastination?

In zeitlicher Hinsicht muss der Gesetzgeber durch geeignete Übergangsvorschriften dafür sorgen, dass jeder Person genügend Zeit bleibt, sich über die neue Rechtslage zu informieren, sich darauf einzulassen und die schwierige, da die eigene Endlichkeit betreffende Frage einer Organspende für sich zu beantworten und daraus schließlich ggf. die Konsequenz zu ziehen, schriftlich oder in einem online-Register zu widersprechen. Das geht nicht von heute auf morgen. Insbesondere die Notwendigkeit, im Falle der Ablehnung aktiv zu widersprechen, generiert erfahrungsgemäß trägheitsbedingte Prokrastinationseffekte („erledige ich morgen“). Eine Übergangsfrist muss angesichts der fundamentalen Bedeutung einer Organspende großzügig bemessen sein, damit ethisch problematische „Mitnahmeeffekte durch Überrumpelung“ möglichst verhindert werden. Ob die im Gesetzentwurf vorgesehene Übergangsfrist von 18 Monaten dafür ausreicht, dürfte noch zu diskutieren sein. Dies hängt nicht nur davon ab, ob das vorgesehene Register für die Eintragung entsprechender Erklärungen rechtzeitig implementiert wird, sondern vor allem davon, ob es gelingt, die erforderlichen Informationen an die Bürgerinnen und Bürger zu bringen. Nur rechtzeitig (tatsächlich) informierte Bürger sind überhaupt vor Überrumpelung geschützt. 

4. Mehr Organe durch Informationsdefizite?

Der Gesetzentwurf zur Einführung der Widerspruchslösung geht zurecht nicht davon aus, dass die Bürgerinnen und Bürger allein angesichts der medialen Berichterstattung über das Thema schon hinreichend informiert wären. Er sieht daher intensive Informationspflichten vor. Zentral ist folgende Regelung: 

„Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung alle Personen, die bis dahin das 16. Lebensjahr vollendet haben, über die ab diesem Zeitpunkt geltende Rechtslage zu informieren. Diese Information hat innerhalb von sechs Monaten dreimal zu erfolgen. Die Meldebehörden haben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die dazu … erforderlichen Daten zur Verfügung zu stellen.“   

Das Informationssystem steht und fällt also mit einem funktionsfähigen Meldewesen und einer reibungslosen und vollständigen Übermittlung der Meldedaten an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Und es beruht auf der Erwartung, dass die Bürgerinnen und Bürger sich dieser Informationen auch annehmen. Man wird diese Erwartung jedenfalls als optimistisch einschätzen dürfen. Dahinter steckt letztlich die Haltung: Wer sich trotz mehrmaliger „Aufforderung“ (dreimal innerhalb von sechs Monaten) nicht mit der Sache befasst (und ggf. widerspricht), hat sich eben selbst zuzuschreiben, dass er als Organspender gilt. Was aber ist mit Menschen, die den Informationen aufgrund ihrer Bildungssituation nicht gewachsen sind, die gar nicht lesen und schreiben können? In Deutschland leben mehrere Millionen Menschen, die Analphabeten oder der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Dazu verhält sich der Gesetzentwurf nicht eigens.

Hinzukommt: Trotz Bestehens einer Meldepflicht sind längst nicht alle Bürgerinnen und Bürger ordnungsgemäß gemeldet, wohnen nicht alle am gemeldeten Hauptwohnsitz, verziehen vorübergehend ins Ausland etc. Der Gesetzentwurf macht sich im Ergebnis die offenen Flanken und Vollzugsdefizite des Melderechts zu eigen und knüpft daran das für die Vertretbarkeit des Systemwechsels zur Widerspruchslösung essentielle Informationssystem. 

5. Mehr Organe durch faktische Sonderopfer: sozialpolitischer Kollateralschaden?

Sozialpolitisch und medizinethisch besonders heikel wird die Widerspruchslösung mit ihren an das Melderecht anknüpfenden Informationspflichten im Hinblick auf solche Personen, die (faktisch) gar keinen Wohnsitz haben, also zumal obdachlose Menschen. Bei ihnen versagt das meldesystemgestützte Informationssystem, auch wenn sie vielleicht noch gemeldet sind. Der Gesetzentwurf verhält sich auch dazu nicht, scheint also ein „Sonderopfer“ für Menschen in besonders prekären Lebensverhältnissen zu implizieren. Das wäre ein nicht akzeptabler sozialpolitischer Kollateralschaden. Insofern bedarf der Gesetzentwurf zu seiner Verfassungskonformität der Nachbesserung. Mindestens muss sichergestellt werden, dass obdachlose Menschen die erforderlichen Informationen in entsprechenden Unterkünften erhalten. Ergänzend ist – etwa durch Streetworker – dafür zu sorgen, dass auch solche obdachlosen Menschen, die nicht in Unterkünften übernachten, erreicht werden. Unbedingt zu diskutieren ist daher eine Erweiterung des vulnerablen – und damit von der Widerspruchslösung ausgeschlossenen – Personenkreises. Nach dem Gesetzentwurf bleibt es für Minderjährige bei der Zustimmungslösung. Für Personen, die nicht einwilligungsfähig sind, sieht der Gesetzentwurf Folgendes vor: 

„Hat der mögliche Organ- oder Gewebespender eine Erklärung zur Organ- oder Gewebespende nicht abgegeben und war er vor Feststellung des Todes … nicht in der Lage, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer Organ- oder Gewebespende zu erkennen und seinen Willen danach auszurichten, ist eine Organ- oder Gewebeentnahme unzulässig…“

Diese Regelung sollte auf obdachlose Personen erstreckt werden. Eine solche Person etwa, die im Zustand der Bewusstlosigkeit aufgefunden und bei der im Krankenhaus der Hirntod festgestellt wird, käme damit als Organspender faktisch nicht in Betracht, es sei denn sie trüge einen Organspendeausweis bei sich. 

6. Nachbesserungsbedarf!

Die gegenwärtige Diskussion um die Widerspruchslösung im Organtransplantationsrecht in Parlament, Medien und Zivilgesellschaft ist sehr stark auf die grundsätzliche ethische und verfassungsrechtliche Vertretbarkeit dieses Modells fokussiert. Sie sollte ergänzt werden um die Frage, wie das Überrumpelungsproblem abgemildert werden kann. Die bloße Anknüpfung der Pflichten zur Information der Bürgerinnen und Bürger an das Melderecht dürfte der verfahrensrechtlichen Dimension des Selbstbestimmungsrechts nicht ausreichend Rechnung tragen. Hier besteht Nachbesserungsbedarf. Eine Erhöhung der Anzahl der Spenderorgane allein aufgrund vermeidbarer Informationsdefizite insbesondere bei Menschen in besonders schwieriger sozialer Lage erscheint ethisch, sozialpolitisch und verfassungsrechtlich schwer vertretbar.

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