Im Kampf gegen den Corona-Virus SARS-CoV-2 soll der Bundestag noch diese Woche Änderungen des Infektionsschutzgesetz beschließen, um die derzeit verhängten Ausgangssperren rechtlich abzusichern. Die Vorlage des Bundesgesundheitsministers, die das Bundeskabinett am 23.03.2020 beschlossen hat, sieht einen neuen § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG vor. Danach kann die zuständige Behörde „Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.“ In diesem Entwurf kommen zwei Entwicklungen der letzten Tage zusammen: Zum einen wächst die Zahl der Städte, Landkreise und inzwischen auch Bundesländer, die im Kampf gegen den Corona-Virus Ausgangssperren bzw. Ausgangsbeschränkungen verhängen. Zum anderen scheint sich, nicht zuletzt auf diesem Blog (hier und hier), im Anschluss an Anika Klafki eine rechtswissenschaftliche Mehrheitsmeinung abzuzeichnen, die bestreitet, dass Ausgangssperren auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden können. Dabei hatten Anika Klafki und Andrea Edenharter, den erhobenen Vorwurf, für Ausgangssperren fehle es im Infektionsschutzgesetz an einer Rechtsgrundlage, bereits mit der Forderung kombiniert, diese noch während der gegenwärtigen Pandemie zu schaffen. Diese Forderung wurde nun erhört, auch wenn die Kabinettsvorlage die Neufassung des § 28 Abs. 1 IfSG lediglich „aus Gründen der Rechtsklarheit“ vorschlägt (S. 28), soll eine Rechtsgrundlage für Ausgangssperren nun explizit ins Gesetz aufgenommen werden.
Ist eine Gesetzesänderung nötig?
Ob ein Eingreifen des Gesetzgebers – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt – wirklich nötig ist, ist aber zweifelhaft. Die rechtswissenschaftliche Kritik an den Ausgangssperren besteht aus zwei Einwänden: Der auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip gestützten Kritik sind die zuletzt in Kraft gesetzten Ausgangssperren durch ihre inhaltliche Ausgestaltung weitgehend entgegengekommen. In Folge der ersten landesweiten Allgemeinverfügung vom 20.3.2020 hat sich eine bayerische Lösung durchgesetzt, die zwar erstens das Verlassen der Wohnung – bzw. in Brandenburg: das Betreten öffentlicher Orte – verbietet, davon aber zweitens umfangreiche und niedrigschwellige Ausnahmen einräumt. Diese triftigen Gründe werden in umfangreichen Ausnahmekatalogen aufgelistet, die – drittens – zudem nicht abschließend sind. Wie von Kießling und Edenharter verlangt, dürfen Bürgerinnen und Bürger ihre Wohnung für die berufliche Tätigkeit, die Ausübung der elterlichen Sorge oder einen Spaziergang mit anderen Angehörigen ihres Haushaltes verlassen.
Die Neufassung des § 28 Abs. 1 IfSG soll freilich selbst nicht den Verhältnismäßigkeitsbedenken, sondern dem Einwand begegnen, es fehle Ausgangssperren bereits an der gesetzlichen Grundlage. Zwar erlaubt die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG alle „notwendigen Schutzmaßnahmen“; dass Ausgangssperren zu diesen notwendigen Schutzmaßnahmen gehören, wird – grundlegend von Klafki, in der Folge auch von Edenharter – aber aus zwei Gründen bestritten: Zum einen sei aus den Materialien ein entsprechender Wille des Gesetzgebers nicht erkennbar, zum anderen sei die Maßnahme sehr eingriffsintensiv und bedürfe deshalb einer speziellen Regelung.
Ersteres scheint mir ein Einwand von eher geringem Gewicht. Generalklauseln ermächtigen in unvorhergesehen Situationen zu Unvorhergesehem. Das gilt auch für § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, wie sich – wo wir gerade von Motiven reden – der Entwurfsbegründung für das Vierte Gesetz zu Änderung des Bundes-Seuchengesetzes klar entnehmen lässt: „Die Fülle der Schutzmaßnahmen, die bei Ausbruch einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, läßt sich von vorneherein nicht übersehen. Man muß eine generelle Ermächtigung in das Gesetz aufnehmen, will man für alle Fälle gewappnet sein“ (BT-Drs. 8/2468, S. 27).
Demgegenüber ist der Verweis auf die besondere Eingriffsintensität der Maßnahme ein bedenkenswerter Einwand. Die Ausgangssperren sind auch nach der bayerischen Lösung noch Grundrechtseingriffe von seltener Intensität. Das gilt insbesondere, wenn man mit dem Ersten Senat hier auch die Streubreite von Maßnahmen für ein Kriterium hält. Trotzdem ist Vorsicht angebracht: So erlaubt es die polizei- und verfassungsrechtliche Dogmatik auch andernorts, auf unvorhergesehene Entwicklungen zu reagieren und schwere Grundrechtseingriffe, die einer besonderen Regelung bedürfen, vorübergehend auf die Generalklausel zu stützen (siehe etwa VGH Mannheim, Urt. v. 22.07.2004 – 1 S 2801/03, Rn. 29). Die infektionsschutzrechtliche Generalklausel ist zudem im Kontext der insgesamt hohen Eingriffsintensität auch anderer seuchenpolizeilichen Maßnahmen zu sehen. Einen besonders intensiven Grundrechtseingriff bedeutet etwa die Quarantäne, die jedenfalls nach der Regelungskonzeption des Gesetzes auch im Wege einer Rechtsverordnung denkbar ist (§ 32 Satz 1 i.V.m. § 30 Abs. 1 IfSG; siehe auch § 75 Abs. 1 Nr. 1 IfSG). Zu nennen sind aber auch die Ansammlungs- und Veranstaltungsverbote, die der Gesetzgeber in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG wegen ihrer Bedeutung und der Strafandrohung zwar herausgegriffen, aber lediglich beispielhaft für die auf Grundlage der Generalklausel möglichen Maßnahmen genannt hat (BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.).
Ist eine Gesetzesänderung zum jetzigen Zeitpunkt hilfreich?
Die jetzt vorgeschlagene Änderung liegt im Rahmen dessen, was zu erwarten war, wenn während einer laufenden Pandemie, ein Gesetz geändert werden soll, um rechtliche Zweifel an bereits getroffenen Maßnahmen zu beseitigen. Der Gesetzesentwurfsentwurf wird bereits als minimalinvasiv kritisiert. Man kann sich vor diesem Hintergrund nicht des Eindrucks verwehren, dass eine gewisse verfassungspolitische Weisheit in einer Dogmatik liegt, nach der in unvorhergesehenen Situationen vorübergehend auch drastische Maßnahmen auf Generalklauseln gestützt werden können, bevor mit den gewonnenen Erfahrungen und nicht zuletzt zeitlichem Abstand gesetzgeberische Schlüsse gezogen werden. Jedenfalls wenn mit dem Ruf nach dem Gesetzgeber Hoffnungen auf eine gesamtgesellschaftliche Diskussion verbunden werden, die auch betroffenen Freiheitsrechten hinreichend Rechnung trägt (so Edenharter), dürfte dieser Abstand helfen. Andernfalls könnte sich herausstellen, dass Maßnahmen, die wir im Rückblick womöglich als „aktionistische Notstandsmaßnahme der Politik“ beurteilen werden, längst Gesetz geworden sind.
Dabei könnte gerade die Diskussion um Ausgangssperren Anlass geben, das seuchenpolizeiliche Rechtsregime grundsätzlich zu hinterfragen. Die Frage, was Einzelnen im Namen der Gesundheit aller zugemutet werden kann, wirft ein Schlaglicht auf das unbefriedigende Nebeneinander verschiedener Handlungsformen und Verantwortlichkeitsregime im gegenwärtigen Infektionsschutzrecht. Das Infektionsschutzgesetz trifft zunächst eigene Regelungen zur Verantwortlichkeit. Schon diese können in der gegenwärtigen Lage ihre Begrenzungsfunktion schnell verlieren. So kann als Ansteckungsverdächtiger i.S.d. § 2 Nr. 7 IfSG in Quarantäne genommen werden, wer mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person hatte. Welche Wahrscheinlichkeit dafür verlangt wird, ist nach allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätzen davon abhängig, wie groß der drohende Schaden ist. Bei schwerwiegenden Folgen – wie etwa einem Kollaps des Gesundheitssystems? – kann auch die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts bereits genügen (BVerwG – Urt. v. 22.03.2012 – 3 C 16.11, Rn. 32). Neben der Störerverantwortlichkeit unterscheidet das Bundesverwaltungsgericht zunächst die Inanspruchnahme von Nichtstörern nach allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätzen von Maßnahmen gegen die Allgemeinheit nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG (ebd., Rn. 26). Daneben tritt die Möglichkeit, statt durch Verwaltungsakt und Allgemeinverfügung nach § 32 Satz 1 IfSG unter denselben Voraussetzungen – namentlich zur Abwehr einer konkreten (!) Gefahr (BT-Drs. 8/2468, S. 21) – durch Rechtsverordnung zu handeln. Die Rechtsverordnung lässt als materielles Gesetz mit dem individualisierbaren Adressatenkreis notwendig auch die Fragen polizeilicher Verantwortlichkeit hinter sich. Dennoch kann eine solche Rechtsverordnung nicht nur Ge- und Verbote nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG enthalten, sondern gemäß § 32 Satz 1 IfSG auch solche, die den Maßnahmen nach §§ 29–31 IfSG entsprechen. Wenn hinsichtlich der jetzt erlassenen Maßnahmen Bilanz gezogen wird, wäre es deshalb an der Zeit, die Fragen der seuchenpolizeilichen Verantwortlichkeit grundsätzlich neu zu ordnen.