Der Vorwurf der Machtversessenheit, das Raunen über den selbstbestimmten Ausnahmezustand, ein Entsetzen über die Selbstverzwergung, in die sich das Parlament gegenüber dem ministerialen Aktivismus fügt – der Diskursbeitrag der Rechtswissenschaft in der Corona-Krise ist der des erhobenen Zeigefingers. Während Virologen Strategien zur Rettung von Menschenleben aushecken, chiffriert über Konzepte wie Hammer and Dance, und Ökonomen sich mit Fantasie dem Erhalt von Wohlstand und wegbrechenden Wertschöpfungsketten durch beispiellose Rettungsmaßnahmen widmen, scheint sich der Eifer vieler Juristen in nörglerischer Pedanterie gegenüber den Krisenmanagern zu erschöpfen. Die Bundesregierung solle ihr Kriseninstrumentarium in den Mühlen des föderalen Systems mahlen, anstatt sich neue Zuständigkeiten bundesweiter Reichweite einzuverleiben; die Beteiligung des Bundestages dürfe nicht mit dem Bedürfnis nach krisenadäquater Geschwindigkeit und Reaktionsvermögen abgekürzt werden; und die lebensrettende Kappung von Infektionsketten findet am Datenschutzrecht ihre Grenzen. Wo, will man den juristischen Mahnrufen entgegenhalten, bleibt denn der konstruktive und lösungsorientierte Beitrag des Rechts zur Krisenbewältigung?
Kritik und Gegenkritik bedürfen der Einordnung. Schwer wiegt der sublime Vorwurf, die Exekutive ergötze sich am Schmittschen Ausnahmezustand. Ohne Zweifel beflügelt der Krisenmodus das ministeriale Beamtenherz, kann das Gestaltungsbedürfnis an langen Tagen und kurzen Nächten doch endlich einmal am offenen Herzen der res publica gestillt werden. Beflügelt wird sie von einem unausgesprochenen Amtsethos, der zwischen gesteigertem Selbstwertgefühl und verantwortungsbewusstem Ernst oszilliert. Und doch kann von unkontrollierter Machtentfaltung keine Rede sein. Begleitet wird die Abweichung vom regierungspraktischen Normalfall von selbst- und fremdbestimmten Einhegungen, die den voluminösen Amtskorpus in ein demokratieprinzipiell gewünschtes Korsett zwingen. Es sind die vielfältigen informellen und formellen Netze und Kanäle, die den Bewegungsspielraum der Ministerialbürokratie begrenzen. Sie bahnen sich ihren Weg über schriftliche Eingaben, informelle Gremien, mediale Wirkmacht und transportieren die Anliegen der gesellschaftlichen Gruppen und Verbände an die Schwelle der ministerialen Entscheidungsträger. Dort werden sie von einer durch die Ausnahmesituation hypersensibilisierten Bürokratie beflissentlich weiterverarbeitet. Sowohl das Bewusstsein des eigenen Wissensdefizits im Umgang mit dem Ausnahmezustand wie auch die Argusaugen der vollintakten vierten Gewalt, die jeden Zug der Exekutive beobachtet und mit den kritischen Stimmen von Betroffenen und Beobachtern kontrastiert, verhindert ein eigenmächtiges Vorgehen der Exekutive.
Manchem Anschein zuwider zieht die föderale Vernetzung ihre Fäden viel enger als im Normalfall. Ständige Konsultationen und das Spiegeln regionaler Bedarfe und Betroffenheit verwickeln den Bund in die Sichtweisen von Ländern und Kommunen. Gesprächskanäle mit den Abgeordneten glühen: nachträglicher Bundeshaushalt, Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die Aussetzung der Schuldenbremse – die Ministerien können ihre Krisenbewältigungsstrategien auch jetzt nur mit parlamentarischem Segen für die wesentlichen Richtungsentscheidungen verfolgen. Dass sie sich nach dem Geschmack einiger zu weitreichende Befugnisse gesichert haben, ist einer im Konsens der Staatslenkungsgewalten zustande gekommenen Einsicht geschuldet, dass Geschwindigkeit und Reaktionsvermögen harte Krisenwährungen sind. Befristung neuer Zuständigkeiten und parlamentarisches Widerrufsrecht verhindern, dass der Ausnahmezustand zum Normalfall wird.
Restringiert ist die Ministerialbürokratie auch durch die vielfältigen Wissensdefizite und Prognoseschwächen, ein Begleitphänomen der epidemiologischen Krise. Abhilfe schaffen u.a. die mannigfach initiierten Diskurse mit Experten, Wissenschaftlern und Praktikern – sie müssen disziplinäre Übersetzungsleistungen erbringen (etwa aus dem Epidemiologischen oder Medizinischen), um das Maß an Prognoseunsicherheit auf ein entscheidungsförderndes Niveau zu senken. Diese über Professionen und Disziplinen hinweg aufgespannten Austauschvektoren binden die Ministerialbürokratie an das dezentral verstreute Wissen. Schon ächzen exponierte Vertreter der Wissenschaft unter der empfundenen Bürde politischer Entscheidungslast.
Auch das Ressortprinzip leistet im Krisenmodus Wertvolles. Die Krise als Ganzheit wird durch das Zuständigkeitssystem in ihre sektoralen Phänomene zerkleinert, in den Verästelungen ministerialer Organigramme dezentral bearbeitet. Deren Entscheidungsvorschläge werden dann aber durch Ressortabstimmung und Kabinettsentscheidung wieder unter allgemeinen Rechtfertigungsdruck gesetzt. Dieser Prozess bringt nicht nur die teils diametralen, von den Ressorts verinnerlichten Interessen in einen kompromisshaften Ausgleich. Auch partikulare Übergewichte und privilegierte Kanäle zur Macht werden so entwertet zugunsten eines allgemeinen Interessenausgleichs. Am Ende des Tunnels muss schließlich alles durch den engen Ausgang gerichtlicher Nachkontrolle schlüpfen, dessen Enge insbesondere die Verfassungsressorts nicht müde werden zu betonen.
Was aber, wenn in der teils schrillen Kritik nicht auch eine Kränkung über den überschaubaren Eigenbeitrag der Rechtswissenschaft zur lebensweltlichen Krisenbewältigung mitschwingt? Dass die Rechtswissenschaft im disziplinären Vergleich auf den vorderen Seiten der Tagespolitik und in den Talkshows kaum Platz füllt, sondern eher im vergeistigten Feuilleton große Linien zeichnet, hat womöglich auch etwas mit einem bescheidenen professionellen Habitus zu tun, der disziplinäre Erkenntnisgrenzen demütiger anerkennt als so mancher wirkungsbewusste Ökonom. Auffällig oft halten sich JuristInnen mit konkreten Lösungsvorschlägen zurück, betonen stattdessen äußerste (verfassungs-)rechtliche Grenzen, die es zu respektieren gelte. Den großen tagespolitischen Raum der Krisenbewältigung betrachten sie aus der Distanz, wahren damit die Einschätzungsprärogative der Gewalten, die dem Verfassungsrecht eingeimpft ist.
Die Rechtswissenschaft ist keine Krisenwissenschaft in dem Sinne, dass sie Popularität durch Vorschläge aktiver Krisenbewältigung gewinnen könnte. Ihr fehlt die Aura des beherzten Krisenmanagements. Die scheinbar retardierenden verfassungsrechtlichen Bremsklötze sind aber nun einmal der disziplinspezifische Beitrag einer um Grundrechte und Gewaltenteilung aufgestellten normativen Wissenschaft. Die Lorbeeren einer lebensnahen Krisenwissenschaft sichern sich andere. Schon in der Finanzkrise sah sich die Rechtswissenschaft in die defensive Rolle des Neinsager und Grenzziehers gedrängt, der sich an vertraglichen Buchstaben und national aufgeladenen Demokratiekonzepten mehr erwärmen konnte als an der Rettung des Kontinents. Das medial ausgeleuchtete Feld der Krisenbewältigung bestellten indes vor allem Ökonomen und Politikwissenschaftler. Dieses Mal teilen sich Naturwissenschaftler und Ökonomen den medialen Raum, verfassungsrechtliche Zwischentöne finden in einer an der Effektivität der Viruseindämmung orientierten öffentlichen Debatte kaum Gehör. Dabei hält gerade das Verhältnismäßigkeitsprinzip für die politischen Entscheidungsträger jene Entscheidungsstütze bereit, mit der sie Dauer und Reichweite der Ausnahmevorschriften täglich aufs Neue auf den Prüfstand stellen müssen.