20. Januar 2021

Stephan Rixen

Heribert Hirte und die Wissenschaft

Wer künftig als Sachverständige_r im Deutschen Bundestag auftritt, sollte auf der Hut sein.

Die Stimmung in Corona-Deutschland schwankt derzeit zwischen Ermattung und Aufgeregtheit. Ein Tweet des stellvertretenden Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag, Heribert Hirte, belegt, dass die Nerven auch im politischen Betrieb zusehends bloß liegen. Hirte war nicht glücklich damit, dass in den Medien, konkret in der „Welt“, davon berichtet wurde, zwei juristische Sachverständige hätten im Gesundheitsausschuss verfassungsrechtliche Kritik an den Regelungen zur Impfpriorisierung geäußert. Daraufhin setzte er – oder wer auch immer seinen Account betreut – folgenden Tweet ab: „Nu mal so: die von @welt zitierten #Kinggreen (AfD SV) und #Kießling dienen durch die Bank immer vielen #Querdenkern als Zitatgeber in den an uns Parlamentarier gerichteten Massenmails.“

Schon in tatsächlicher Hinsicht ist an diesem Tweet einiges falsch: „Nu mal so“ meint, wie die Bezüge zu anderen Tweets verdeutlichen, offenbar „Nur mal so“, beim schnellen Tippen auf der Handy-Tastatur geht schon mal ein Buchstabe verloren. Mit „Kinggreen“ ist der Regensburger Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen gemeint. Er wird in diesem Tweet wahrheitswidrig als von der AfD benannter Sachverständiger gebrandmarkt („AfD SV“), obgleich er von der FDP benannt worden war. In den Sog des Verdachts, AfD-nah zu sein, gerät auch Andrea Kießling, Verfassungsrechtlerin aus Bochum, obwohl die Grünen sie als Sachverständige benannt hatten. Weiter weg von der AfD als die beiden kann man nicht sein.

Beiden wird zum Vorwurf gemacht, dass sie „Querdenkern“ als „Zitatgeber“ dienen. D.h., der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses, selbst Jura-Professor, macht einer honorigen Fachkollegin und einem honorigen Fachkollegen zum Vorwurf, dass sich „Querdenker“ ihrer Argumente bedienen. Was gleich schon mal die Frage aufwirft, woran man „Querdenker“ erkennt. Das sind in Hirtes Logik offenbar all die, die auch mit verfassungsrechtlichen Argumenten Kritik an regulatorischen Maßnahmen in der Pandemie-Bewältigung äußern, wobei erschwerend ins Gewicht zu fallen scheint, dass die Kritik indirekt politisch Verantwortliche betrifft, die der Regierungskoalition angehören. Hirte meint das ernst, was eigentlich kaum vorstellbar ist, denn er vertritt damit nicht nur einen völlig verdrehten Ansatz von öffentlicher Kritik, sondern verkennt auch die Rolle, die wissenschaftliche Politikberatung dabei spielt. Sein ehemaliger Fraktionskollege Ruprecht Polenz, auch er Jurist, würzt das Ganze noch mit einer Prise antiprofessoralen Ressentiments, wenn er in einem Kommentar zu Hirtes Tweet meint, man müsse „halt nicht über jedes Stöckchen“ springen, „das ein Professor dem Parlament hinhält“. Bis zu Gerhard Schröders berüchtigtem, gegen Paul Kirchhof gerichteten Professoren-Bashing („der Professor aus Heidelberg“) ist es da nicht mehr weit, und das hat im akademischen Betrieb niemand vergessen.

Es empfiehlt sich generell, nicht jeden, der die Maßnahmen zur Pandemie-Bewältigung kritisch betrachtet, als AfD-Sympathisanten in den Senkel zu stellen. Politisch Irre, mental Ab- oder sonst wie Durchgedrehte und wohl auch einige Gefährliche gibt es unter den Kritikern zweifellos, da sind Polizei und Verfassungsschutz gefragt. Ansonsten realisiert sich in der Kritik die Meinungsfreiheit, von der auch beim Thema „Corona“ in nicht immer angenehmer Weise Gebrauch gemacht wird. Wer als juristischer Laie seine Anti-Argumente mit meist nicht ganz verstandenen verfassungsrechtlichen Gedanken aufhübscht, lässt erkennen, dass Verfassungspatriotismus vielfältige Formen annehmen kann, auch solche, die befremden. Aber besser, jemand bezieht sich aufs Grundgesetz und nicht auf zweifelhafte Texte.

Die entscheidende Frage ist: Was hätten Thorsten Kingreen und Andrea Kießling anders machen können, um eine steinbruchartige Indienstnahme ihrer Äußerungen zu verhindern? Das einzige, was sie hätten tun können, wäre gewesen, von vornherein nichts zu tun. Sie hätten ex ante schweigen müssen, um den mutmaßlichen Beifall von der falschen Seite ex post zu vermeiden. Hirtes Sekundant, Ruprecht Polenz, meint dazu in einem weiteren Kommentar bei Twitter: „Warum sollten Experten nicht kritisiert werden dürfen? Wenn sie nicht von … der AfD in Anspruch genommen werden wollen, können sie das leicht deutlich machen. Sonst wird ihnen der Beifall halt zugerechnet.“ Wer, soll das wohl heißen, als Sachverständiger in der Öffentlichkeit auftritt, muss sich die absehbaren Instrumentalisierungen durch all die zurechnen lassen, denen jedes Mittel recht ist. Das ist nichts anderes als eine Blankohaftung für die Fehlkontextualisierung eigener Äußerungen durch andere.

Schon praktisch ist das irrwitzig, weil die Kontexte, in denen eigene Äußerungen wiedergegeben und verzerrt werden können, unendlich sind. Aber auch in prinzipieller Hinsicht liegt ein solcher Ansatz daneben. Denn er läuft letztlich darauf hinaus, dass jemand, um Missverständnisse, Fehldeutungen, ja bloße Rezeptionen zu vermeiden, am besten gar nichts mehr sagt. Wer aber wissenschaftlichen Sachverständigen quasi-trappistische Schweigsamkeit in der Öffentlichkeit verordnet, weil sie ja vielleicht falsch oder von den Falschen richtig verstanden werden könnten, hat das Konzept öffentlicher Vernunft nicht verstanden.

Der Wettstreit um die besten politischen Lösungen für die Bewältigung der Pandemie bedarf des freien Austauschs der Argumente. Deshalb gibt es auch die kluge Übung, die Wissenschaft in die parlamentarische Beratung politisch brisanter Themen einzubinden. Dahinter steht die Erwartung, dass wissenschaftliche Sachverständige, weil sie von akutem Handlungs- und Entscheidungsdruck entlastet sind, Problematisches oder Gelungenes unvoreingenommen einordnen können. Das verbindet sich mit der Hoffnung, so würden politische Entscheidungen vernünftiger, plausibler, besser. Es ist kaum anzunehmen, dass sich Hirte und Polenz von diesem bewährten Weg, das Parlament durch Sachverständige zu einem noch besseren Forum öffentlicher Vernunft zu machen, verabschieden wollen. Dazu ist das, was Sachverständige, übrigens ehrenamtlich, bei Anhörungen im Bundestag leisten, zu wichtig.

Nach Hinweisen aus der Twitter-Gemeinde hat Heribert Hirte in einem neuerlichen Tweet betont, er „schätze ausdrücklich“ die Expertise von Andrea Kießling: „Wir stehen im permanenten Austausch mit der Wissenschaft und haben … mehrere Argumente von Frau Kießling bei der Neuformulierung des Infektionsschutzgesetzes aufgegriffen.“ Inzwischen hat sich Hirte per Tweet auch bei Thorsten Kingreen für die Unterstellung entschuldigt, er sei Sachverständiger für die AfD gewesen. Dass Kingreen und Kießling „Querdenkern“ als Zitatgeber dienten, hat Hirte bislang nicht korrigiert. Das enttäuscht, denn das Internet ist auch eine Reputationsbeschädigungsmaschine, die fast nichts oder meistens zu spät vergisst. Wer beim halbkonzentrierten Herumtwittern Porzellan zerschlägt, sollte beim Eingeständnis, einen Fehler gemacht zu haben, nicht zu knauserig sein.

Ich teile den weitaus größten Teil der verfassungsrechtlichen Kritik, die Andrea Kießling und Thorsten Kingreen an den Maßnahmen zur Pandemie-Bewältigung, auch an den Regelungen zur Impfpriorisierung, äußern, nicht, und doch lerne ich, wenn ich ihre Texte lese, mehr, als mir lieb ist. Man muss die Erkenntnis aushalten, dass andere die eigene Ansicht nicht teilen, weil sie dafür gute Gründe haben. Der stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses sieht das offenbar anders. Wer künftig als Sachverständiger im Deutschen Bundestag auftritt, sollte auf der Hut sein.

In einer früheren Version dieses Artikels wurde Polenz irrtümlich als (aktueller) Fraktionskollege von Hirte bezeichnet; der Fehler ist korrigiert.

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