Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.
Diesen hier sinngemäß zitierten Satz hat Jens Spahn bei einer Regierungsbefragung zu den ersten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid 19-Pandemie im Frühjahr 2020 gesagt (Plenarprotokoll 19/155, Stenographischer Bericht, 155. Sitzung vom 22. April 2020, S. 19211 A). Ich denke, dass sich auch die Staatsrechtslehre davon angesprochen fühlen sollte. Was ich in der Zeit, als wir in den Ministerien buchstäblich Tag und Nacht durchgearbeitet haben, um in kürzester Zeit ein tragfähiges rechtliches Instrumentarium für den Umgang mit dieser nie da gewesenen Situation zu schaffen, lesen musste, war teils schon sehr heftig.
Auch wenn manche dieser äußerst zugespitzten Vergleiche bis schlichtweg polemischen Äußerungen in relativierender oder gar formal verneinender Einkleidung eines „noch nicht“ oder „wir wollen doch nicht“ dargeboten wurden, so scheinen sie doch gezielt auf die Assoziation mit Zuständen vor Geltung des Grundgesetzes angelegt gewesen zu sein. Etwa, wenn von einem „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“, vom „alltäglichen Ausnahmezustand“, von der „Aufgabe der Freiheitsrechte zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates“, von „totalen Ausgangssperren“, einem „quasi grundrechtsfreien Zustand“ gesprochen oder das „historische Trauma des Ermächtigungsgesetzes vom März 1933 und der Handhabung des Notverordnungsrechts durch den letzten Reichspräsidenten“ beschworen wird.
Ich weiß nicht, was die Kollegen bewogen hat, sich in dieser Weise zu artikulieren und in Rechtsstaats-Untergangsszenarien zu ergehen. Ich erwähne dies hier aber deshalb, weil es zum Kern unseres Themas führt: „Erwartungen, Erfahrungen und Verantwortung“.
Zu Beginn der Pandemie bestand von Seiten einiger Staatsrechtslehrer offenkundig die Erwartung, (stärker) gehört zu werden.
Darauf folgte die verständlicherweise enttäuschende Erfahrung, dass auch das Parlament die Notwendigkeit sah, die von der Regierung vorgeschlagenen Rechtsänderungen sehr zügig umzusetzen und keine ausgiebigen Sachverständigenhearings und Anhörungen zu möglichen Alternativen durchführte. Die dabei zum Teil erfolgten historisch unhaltbaren Vergleiche zu dem berüchtigten Notstandsartikel der Weimarer Reichsverfassung (Art. 48 Abs. 2 WRV) oder gar dem Ermächtigungsgesetz von 1933 bringen mich zum dritten Punkt: Verantwortung.
Es gibt meines Wissens noch keine vertiefte Untersuchung zur Entstehungsgeschichte der sogenannten Querdenkerbewegung. Aber es ist doch auffällig, wie viele der Demonstranten sich als Verteidiger des Grundgesetzes gegen einen vermeintlich evident verfassungswidrig handelnden Staat gerieren.
Viele berufen sich auch auf das in Artikel 20 Abs. 4 GG verankerte Widerstandsrecht. Da sind Äußerungen von namhaften Rechtswissenschaftlern mit Vergleichen zur Situation von 1933 leider auch Wasser auf die Mühlen dieser in vielerlei Hinsicht gefährlichen Bewegung.
Kein verfassungsrechtlicher Ausnahmezustand
Horst Dreier hat in einem sehr ausgewogenen Aufsatz (DÖV 2021, S. 229 ff.) überzeugend dargelegt, dass sich Deutschland gerade nicht – wie manche andere Staaten – in einem verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand befindet, sondern das Grundgesetz auch in der Corona-Krise ungeschmälert Geltungskraft besitzt und Grund und Grenze für die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt bildet. Auch sind die Grundrechte – wie etwa das Versammlungsrecht – in der aktuellen Krise nicht, wie man oft hören und lesen kann, „suspendiert“ worden.
Es ist bei uns gerade nicht zu einer auch nur temporären Außerkraftsetzung von Grundrechten gekommen. Dies kann man unschwer daran erkennen, dass alle Maßnahmen von den Gerichten selbstverständlich anhand der Grundrechte und dabei insbesondere am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips geprüft werden.
Seit Frühjahr 2020 hat es mehr als 6000 Verfahren vor den Verwaltungsgerichten gegeben, in denen infektionsschutzrechtliche Maßnahmen angegriffen wurden (Rebehn, DRiZ 2020, 422 f.). Auch beim Bundesverfassungsgericht sind zahlreiche Verfahren anhängig. Manche exekutiven Entscheidungen oder Regelungen haben die Gerichte aufgehoben, in der großen Mehrzahl haben sie sie jedoch bestätigt.
Sachverstand und Innovation
Wir haben im Deutschen Bundestag nach anfänglicher Unsicherheit, wie wir angesichts der Unwägbarkeiten der Pandemie einen regulären Parlamentsbetrieb sicherstellen konnten und bislang keine einzige parlamentarische Sitzungswoche ausfiel, eine ganze Reihe von grundlegenden Debatten über die richtigen und angemessenen Wege zur Eindämmung der Pandemie geführt. Dabei haben wir das rechtliche Instrumentarium anhand von Hinweisen aus der Rechtsprechung und Formulierungshilfen der Bundesregierung auch fortlaufend legislativ „nachgeschärft“. Ich erinnere nur an die Einfügung des § 28a in das Infektionsschutzgesetz im vergangenen November und auch die jüngst parlamentarisch beratenen Rechtsänderungen zur Feststellung des Fortbestands der epidemischen Lage von nationaler Bedeutung. Wir haben seither zudem mehrfach öffentliche Anhörungen von Sachverständigen in den Ausschussberatungen durchgeführt.
Bei solchen Anhörungen ist es üblich, dass die Fraktionen jeweils ein Vorschlagsrecht für Sachverständige haben. Natürlich suchen die Fraktionen diese Sachverständigen auch danach aus, ob sie die eigene politische Position voraussichtlich stützen werden. Alles andere wäre lebensfremd. Nicht alleine im Kontext der gegenwärtigen Pandemie-Themen stellt sich aber durchaus die Frage, wie man solche Anhörungen offener, dialogischer und effektiver gestalten kann. Denkbar wären hier ganz praktische Regeln, wie das Verbot, Fragen ausschließlich an die von der eigenen Fraktion bestellten Sachverständigen zu stellen oder die Möglichkeit, auch Vertreter von Ministerien zu befragen.
In jedem Fall aber haben die Sachverständigen auch insofern eine besondere Verantwortung, als sie das Parlament sachgerecht beraten sollen. Ihre Rolle ist nicht die der Teilnahme an einem politischen Diskurs.
Ich bin mir bewusst, dass dies für jeden Wissenschaftler – und hier meine ich nicht nur die Vertreter der Rechtswissenschaft – ein schmaler Grat ist. Natürlich ist die Aufgabe der Wissenschaft gegenüber der Politik und der Gesetzgebung insbesondere auch die der Kritik – nicht aber der Kritik um ihrer selbst willen.
Inflationäre Kritik der Verfassungsrechtswissenschaft entwertet letztlich das eigene Fach bei der Politikberatung.
In diesem Sinne wünsche ich mir von der Staatsrechtslehre weniger die Präsentation verfassungspolitischer Innovation, sondern die Darstellung gesicherter Verfassungsmaßstäbe und eine fachgerechte Subsumtion.