„Ein unbegrenztes Fortschreiten von Erderwärmung und Klimawandel stünde aber nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.“ So das Bundesverfassungsgericht in seinem in der vorigen Woche verkündeten Klimabeschluss. Muss sich nun das Klima nach Karlsruhe richten? Klimawandel höchstrichterlich abgesagt? Das ist natürlich nicht der Aussagegehalt des zitierten Satzes. Deutschlands höchstem Gericht geht es um das verfassungsrechtlich geforderte Maß an Klimaschutz. Und dabei kommt Karlsruhe zu Antworten, die in der öffentlichen Diskussion überwiegend als Weckruf für die Bundesregierung wahrgenommen wurden. Der Beschluss wird dabei von vielen zurecht als historisch eingeordnet, von anderen aber auch wegen seiner Zurückhaltung und in der Sache geringen Konsequenzen gescholten. Matthias Goldmann erkennt sogar einen „postcolonial turn“ in der Karlsruher Rechtsprechung, zumindest des Ersten Senats. Andere beklagen, so viel war erwartbar, die Übernahme Karlsruhes durch ideologische Klimaschützer und ein mangelndes Freiheitsverständnis in Deutschland.
Wer hat Recht? Es ist richtig, dass der Beschluss zunächst einige wegweisende Ausführungen zum Themenkomplex Klimagerechtigkeit aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive enthält. Sodann ist der Urteilsausspruch eng umgrenzt, konkrete Änderungen am Klimaschutzgesetz fordert das Gericht nur für den Zeitraum ab 2031 ein. Wer nun aber deshalb die Bedeutung des Beschlusses kleinredet, verkennt die Pointe der Karlsruher Richter: Wenn der Schutz der Freiheit der jüngeren Teile der Bevölkerung ein Mehr an Schutz heute verlangt und zugleich das CO2-Budget Deutschlands immer weiter senkt, wird es nicht bei Änderungen für den Zeitraum ab 2031 bleiben können. Das lässt Karlsruhe deutlich durchblicken, überlässt es aus Respekt vor dem demokratischen Gesetzgeber aber diesem, die richtigen Schlüsse aus dem Urteil zu ziehen. Da nunmehr die Umsetzung der Karlsruher Vorgaben ansteht, lohnt es sich, dieser Frage noch einmal gesondert nachzugehen.
Aber der Reihe nach: Warum ist der Karlsruher Beschluss zurecht als historisch zu würdigen? Das Bundesverfassungsgericht arbeitet in aller Deutlichkeit heraus, dass dem Grundgesetz ein verfassungsrechtlich verbindlicher und gerichtlich überprüfbarer Auftrag zum Klimaschutz innewohnt. Diesen leitet es aus Art. 20a des Grundgesetzes ab, in dem der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen seit 1994 als Staatszielbestimmung Erwähnung findet. An diesen Passagen der Entscheidung ist vor allem bemerkenswert, dass das Gericht diesen Verfassungsauftrag zum Klimaschutz so versteht, dass er zwangsläufig zur Klimaneutralität führen muss. Auf der Grundlage der naturwissenschaftlichen Studien, so Karlsruhe, sei ein anderer Schluss nicht möglich. Auch zu den Mitteln und Wegen zur Klimaneutralität lässt das Gericht keinen Zweifel: Klimaschutz muss durch internationale Kooperation auf völkerrechtlicher Ebene erreicht werden. Auch dahingehend enthält die Verfassung einen klaren Auftrag. Zugleich darf die Untätigkeit anderer Staaten keine Entschuldigung für eigene Säumnis sein. Damit entwirft der Erste Senat des Gerichts hier en passant eine Staatsphilosophie des international eingebundenen und sich im wahrsten Sinn des Wortes verantwortungsvoll verhaltenden Staates.
Einen Verstoß gegen das Klimaschutzgebot kann das Gericht in Form der aktuellen Regelungen des Klimaschutzgesetzes aber nicht erkennen. Der Verfassungsverstoß ergibt sich – und das ist der wirklich innovative Gehalt des Urteils – aus einer in die Zukunft verlängerten Definition von grundrechtlich geschützter Freiheit. Hier muss das Gericht weit ausholen und erläutern, warum es bei zu geringen Anstrengungen zum Klimaschutz in der Gegenwart zwangsläufig zu immer drastischeren Maßnahmen in der Zukunft kommen muss. Damit, durch diese Verlagerung von CO2-Einsparungen in die Zukunft, wird die Freiheit von jüngeren Menschen unverhältnismäßig beschränkt. Grundrechte dienen, so das Bundesverfassungsgericht, auch einer intertemporalen Freiheitssicherung. Die Rückschlüsse, die das Gericht aus dieser ambitionierten Neukonzeption der Grundrechte zieht, sind dann erst einmal bescheiden: Der Gesetzgeber hat im Klimaschutzgesetz nur bis 2030 Reduktionsschritte normiert und den weiteren Pfad zur Klimaneutralität insofern offengelassen. Eine Verordnungsermächtigung sieht vor, dass die Bundesregierung ab 2025 weitere Schritte definiert. Das genügt dem Bundesverfassungsgericht nicht. Konkret fordert es also ein, über 2031 hinaus zu definieren, wie Emissionen zu reduzieren sind.
Die Pointe dieser Konstruktion ist nun aber, dass der Gesetzgeber hier nicht nur punktuelle Änderungen für den Zeitraum ab 2031 vornehmen kann, ohne mit anderen Vorgaben Karlsruhes in Konflikt zu geraten. Wie das Gericht unter Berufung auf die Berechnungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung darlegt, droht das deutsche Restbudget für CO2-Ausstöße schon 2030 fast erschöpft zu sein. Will der Gesetzgeber also im Einklang mit dem Gebot der möglichst großen Abfederung zukünftiger Härten handeln, so muss er mehr tun, als nur weitere Schritte für den Zeitraum ab 2031 zu präsentieren. Dies gilt umso mehr, als das Bundesverfassungsgericht auch im Hinblick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten und das Klimaschutzgebot anmerkt, dass die Reduktionsschritte im Lichte verfügbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder neu justiert werden müssen. Eine im wahrsten Sinn des Wortes nachhaltige Umsetzung des Karlsruher Beschlusses wird also mehr erfordern, als nur für den Zeitraum ab 2031 nachzubessern.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts fordert hier einen verantwortungsvollen Umgang mit der Freiheit ein. Freiheit kann nach diesen Vorgaben nicht nur im hier und jetzt gedacht werden, sondern muss immer die Implikationen ihres Gebrauchs für die Zukunft bedenken. Das Gericht kommt zu diesem Ergebnis in einem bemerkenswert diskursiven Vorgang, der zudem stets in enger Tuchfühlung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgt. Diese werden nicht blind als Vorgabe gesetzt, sondern im Hinblick auf ihre Aussagekraft kontextualisiert und in ein Spannungsfeld zu politischer Entscheidungsfreiheit gesetzt. Die Betonung der auch für die Zukunft notwendigerweise zu erhaltenden Freiheit ist zudem demokratieschonend: Je später gehandelt wird, desto drastischer müssen Maßnahmen ausfallen und desto weniger Spielraum werden zukünftige demokratische Gesetzgeber haben. Dem Beschluss wohnt bei aller Ausgewogenheit eine klare Aussage inne: Wir können uns unsere Freiheit nur so lange erlauben, wie wir die Auswirkungen ihres Gebrauchs mitbedenken. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, an deren Bedeutung aber auch im Kontext der Eindämmung der Covid-19 Pandemie anscheinend doch erinnert werden muss.