11. Oktober 2021

Benjamin Kneihs

Unappetitliches aus Österreich

Zu den (verfassungsrechtlichen) Hintergründen der aktuellen politischen Entwicklungen

1. Vorspeise

In einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss sollte unter anderem die Besetzung der Spitze der ÖBAG geklärt werden, das ist die Österreichische Beteiligungs- Aktiengesellschaft, in der die diversen Anteile der Republik an öffentlichen Unternehmen verwaltet werden. Der (aus heutiger Sicht: damalige) Bundeskanzler bestritt rätselhafter Weise jede Involvierung in diesen Bestellungsvorgang, obwohl es doch ganz normal (gewesen) wäre, dass der Bundeskanzler daran mitwirkt. Später kamen Chat-Protokolle zu Tage, die das Gegenteil indizieren. Woraufhin die Wirtschafts- und Korruptions-Staatsanwaltschaft (WKStA), eine Spezialbehörde unter den Staatsanwaltschaften, den Bundeskanzler der falschen Beweisaussage beschuldigte.

Am Rande dieser Ereignisse offenbarten ebenfalls Chat-Protokolle eine ziemlich geschmacklose Konversation zwischen einem (derzeit suspendierten) Sektionschef im Justizministerium und einem wiederum ehemaligen Justizminister, der nunmehr Mitglied des Verfassungsgerichtshofes (VfGH; dem österreichischen Pendant zum BVerfG) war. Der eine ist nun selbst Beschuldigter in wenigstens einem Strafverfahren, der andere musste zurück treten und gehört nun nicht mehr dem Verfassungsgericht an.

Begleitet wurden alle diese Vorgänge von wiederholten, teils massiven Angriffen der größeren Regierungspartei auf die WKStA, die dem von der kleineren Regierungspartei geführten Justizministerium untersteht.

2. Hauptspeise

Danach trat für eine Weile Beruhigung auf den polit-strafrechtlichen Fronten ein. Bis die WKStA – wiederum auf Grund ausgewerteter Chat-Protokolle – dem Verdacht nachzugehen begann, der (aus heutiger Sicht: ehemalige) Bundeskanzler habe damals noch als Außenminister seinen eigenen Aufstieg in seiner Partei und damit auch zum Bundeskanzler unter anderem dadurch orchestriert, dass er einem wichtigen Tagesmedium öffentliche Inseraten-Aufträge als Gegenleistung für günstige Berichterstattung verschafft und auf die Inhalte von Meinungsumfragen Einfluss genommen habe.

Dabei ging es wohlgemerkt nicht um die Frage, ob die öffentliche Hand überhaupt mit Steuergeldern zur Beeinflussung der Staatsbürger/innen in Zeitungen Inserate schalten darf. Diese Frage wurde vom Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung Verfassungssammlung 13.839/1994 soweit geklärt. Damals ging es um die Werbung für den österreichischen Beitritt zur Europäischen Union. Interessanterweise wurde das Problem aus Anlass der österreichischen Impfkampagne selbst von fanatischen Querdenkern nicht wieder aufgegriffen. Die WKStA ermittelt hingegen wegen des Verdachts der (Anstiftung zur) Bestechung und Bestechlichkeit sowie der Untreue (nämlich des Einsatzes von öffentlichen Inseratenaufträgen als Bestechungsmittel).

Zur Erhärtung (oder Entkräftung) dieses Verdachtes führte die WKStA vergangene Woche Hausdurchsuchungen im Finanzministerium, dem Bundeskanzleramt und der Parteizentrale der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) durch, deren Bundesobmann damals zugleich auch das Amt des Bundekanzlers bekleidete.

Dies rief zunächst wiederum umso heftigere Angriffe auf die WKStA auf den Plan, die aber bald verstummten, als das Ausmaß der Vorwürfe sichtbar wurde. Darin wurden nicht nur die bereits beschriebenen Vorwürfe, sondern auch rein politische Vorgänge sichtbar, die darauf hindeuten, dass auch jenseits des Strafrechtes mit nicht gerade zimperlichen Methoden um den Parteivorsitz und damit letztendlich das Kanzleramt gekämpft worden ist.

Lassen Sie uns an dieser Stelle kurz inne halten.

Es ist aus verfassungsrechtlicher Sicht erstens keineswegs selbstverständlich, dass die zitierten Chat-Protokolle von der Staatsanwaltschaft überhaupt ausgewertet, geschweige denn an die Öffentlichkeit „geleakt“ worden sind. Art 10a des österreichischen Staatsgrundgesetzes gewährleistet die Freiheit der Telekommunikation und verlangt für Eingriffe einen richterlichen Beschluss. Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich im Verfassungsrang steht, garantiert die Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des „Briefverkehrs“, mit dem die gesamte (individuelle) Kommunikation des Betroffenen gemeint ist. Der Richtervorbehalt für Eingriffe in die Telekommunikation umfasst selbstverständlich nicht nur das synchrone Abhören, sondern auch die Beschlagnahme und Auswertung von Mobiltelephonen, auf denen frühere Telekommunikation gespeichert ist. Und der Zusammenhang zumindest der in der Öffentlichkeit diskutierten Unterhaltungen zwischen dem Sektionschef und dem inzwischen früheren Verfassungsrichter mit den Ermittlungen der WKStA ist mehr als fraglich. Es ist also zumindest insofern zweifelhaft, wie diese Protokolle überhaupt ihren Weg in den Akt der WKStA gefunden haben und erst recht, wie sie an die Öffentlichkeit gelangen konnten (dies dürfte im einen Fall auf eine Indiskretion im Rahmen des eingangs erwähnten Untersuchungsausschusses zurück gehen, die Details wären interessant, würden aber den Rahmen sprengen; im anderen, politisch brisanteren Fall aber ist dies nicht klar).

Zweitens verbürgt Art 6 Abs 2 EMRK für jedermann und damit auch für die Mitglieder der Bundesregierung die Unschuldsvermutung, die nach gefestigter Rechtsprechung auch vor medialen Vorverurteilungen schützt. Insofern beschleicht den Verfassungsjuristen (und wohl auch die Verfassungsjuristin) bei all diesen Vorgängen schon von daher ein unangenehmes Gefühl.

Nichtsdestotrotz sind die besagten Informationen nun einmal an die Öffentlichkeit gelangt, wo sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Der kleine grüne Koalitionspartner sah die Person des Bundeskanzlers ob der gegen sie erhobenen Vorwürfe nicht mehr „amtsfähig“ und schlug der größeren Regierungspartei vor, an ihrer Stelle eine „untadelige“ Persönlichkeit für dieses Amt zu nominieren. Dies wurde begleitet von Gesprächen mit den übrigen Parlamentsparteien, die wohl auf ein Misstrauensvotum und eine (politisch ebenfalls brisante) Koalition aller verbleibenden Parteien, einschließlich der Masken und Impfungen verweigernden FPÖ hinaus gelaufen wären.

Der größere Koalitionspartner gab aber dem Druck nach und bewegte seinen Bundeskanzler zum Rücktritt in die zweite Reihe, wo er als Klubobmann (= Fraktionschef) künftig im Parlament die ÖVP führt.

Halten wir noch einmal inne:

In Österreich kann man als Mitglied der Bundesregierung zugleich auch dem Parlament angehören, wenn man dafür bei der Nationalratswahl (dem österreichischen Pendant zur Bundestagswahl) gewählt worden ist (Art 70 Abs 2 BVG). Man kann auf ein solches Mandat aber auch für die Dauer der Mitgliedschaft in der Bundesregierung verzichten und es sich dann gleichsam wieder holen (§ 111 der Nationalratswahlordnung, NRWO). Dies ist beim inzwischen ehemaligen Bundeskanzler augenscheinlich der Fall. Als Abgeordneter ist der bisherige Bundeskanzler nun zwar gegenüber einer Strafverfolgung grundsätzlich immun, das Parlament kann ihn aber auch „ausliefern“, also seine Verfolgung gestatten und die ÖVP hat bereits angekündigt, dies mit zu tragen, um die Vorwürfe so bald wie möglich aufzuklären.

Und: Das Parlament kann nicht nur der ganzen Bundesregierung, sondern auch einzelnen ihrer Mitglieder das Vertrauen entziehen (Art 74 Bundes-Verfassungsgesetz [BVG]). Eines besonderen Grundes oder Anlasses bedarf es dafür nicht. Dass es, also das Parlament die Bundesregierung oder das betroffene Mitglied nicht mehr dulden möchte, genügt. Dies gilt auch „bloß“ für den Bundeskanzler, obwohl von seinem Vorschlag das Schicksal der gesamten übrigen Bundesregierung abhängig ist. Nach Absetzung des Bundeskanzlers ist nämlich der Bundespräsident wieder frei, eine (grundsätzlich: beliebige) zum Nationalrat wählbare Person mit diesem Amt zu betrauen, die ihm dann eine neue Bundesregierung vorschlagen oder die bestehende Bundesregierung akzeptieren kann (Art 70 BVG). Der Bundespräsident hat heute, Montag, den 11. Oktober, den bisherigen Außenminister zum Bundeskanzler ernannt und es nicht zu erwarten, dass ihm dieser die Entlassung aller oder einzelner Mitglieder der übrigen Bundesregierung vorschlagen wird.

3. Nachspeise

Mit dem Rücktritt des Bundeskanzlers und der Ernennung des bisherigen Außenministers zum Bundeskanzler ist das Staats- Schauspiel also vorerst vorbei. Es ist nicht zu erwarten, dass ein gegen den neuen Bundeskanzler oder andere Regierungsmitglieder gerichteter Misstrauensantrag in der Sondersitzung am Dienstag (den 12. Oktober) eine Mehrheit findet, zumal der kleine Koalitionspartner sich bereits auf eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der ÖVP unter dem neuen Bundeskanzler festgelegt hat.

Das Parlament hätte aber auch jedenfalls die angebliche Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss zum Gegenstand einer Ministeranklage machen können (Art 143 BVG). Dadurch wäre das Strafverfahren auf den Verfassungsgerichtshof übergegangen, der es wohl schneller als das ordentliche Gericht und vor allem in nur einer Instanz erledigt hätte (siehe meinen Beitrag in der „Presse“ vom 09. Oktober dJ). Dies ist und bleibt auch nach Beendigung der Amtszeit möglich; das Anklagerecht des Nationalrates verjährt erst ein Jahr danach (§ 80 Verfassungsgerichtshofgesetz, VfGG). Etwas unsicherer ist es, ob auch die Inseraten-Affäre diesen Weg nehmen kann. Verlangt ist nicht nur eine „Verbindung“ zur „Amtstätigkeit“ des Angeklagten. Diese wird man auch im Hinblick auf seine damalige Position als Außenminister beziehen und zudem annehmen können, dass der Aufstieg vom Außenminister zum Bundeskanzler weder diese „Verbindung“ zur „Amtstätigkeit“ zerreißt noch die Verjährung einer Ministeranklage auslöst. Allerdings wurde der Bundeskanzler 2019 schon einmal abgesetzt und erlangte sein Amt erst 2020 wieder, nachdem er Neuwahlen gewonnen und den Koalitionspartner gewechselt hatte. Dazwischen lagen sieben Monate (Ende Mai 2019 bis Anfang Januar 2020). Wenn man daher die Zeiten einrechnet, in denen der nunmehr ehemalige Bundeskanzler schon einmal zwischendurch nicht mehr Kanzler war, wäre die Verjährungsfrist noch nicht vorbei. Dafür muss man aber außerdem voraussetzen, dass durch dieses Intervall nicht Diskontinuität zwischen den „Amtstätigkeiten“ eintritt, weil die neuerliche Ernennung nicht – wie der Wechsel vom Außen- ins Kanzleramt – eine unmittelbare Anknüpfung, sondern einen neuen Zurechnungszeitraum begründet. Die zweite Amtszeit währt nun schon länger als fünf Monate. Kommt es für die Möglichkeit einer Ministeranklage auf ein Jahr nach Beendigung der ersten Amtszeit an, dann ist diese Möglichkeit daher verjährt. Steht damit die Ministeranklage zumindest auf wackeligen Beinen und läuft sie Gefahr, vom VfGH zurück gewiesen zu werden, der sich um einen solchen Prozess ganz bestimmt nicht freiwillig reißt, dann bleibt nichts anderes übrig, als die jedenfalls langwierigeren Verfahren vor den ordentlichen Strafgerichten abzuwarten. Auch wenn das politische „Sittenbild“ schon ganz unabhängig vom Strafrecht nicht günstig ist: Erst wenn fest steht, ob der ehemalige Bundeskanzler verurteilt oder frei gesprochen wird, werden wir wissen, ob mit seinem Comeback zu rechnen ist.

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