12. Juli 2022

Julian Krüper

Notorisch reformunwillig

Vor einigen Tagen hat sich die Vorsitzende des Deutschen Juristenfakultätentages, die Saarbrücker Kollegin Tiziana Chiusi, mit einem meinungsstarken Beitrag (Paywall) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Debatte um die Einführung eines studienbegleitenden Jura-Bachelors positioniert. Man würde gerne sachlich auf ihn replizieren, die Sache hätte es verdient, allein: Der durch den prominenten Publikationsort und das Amt der Autorin verstärkte Ton des Beitrags verlangt nach entschiedenem Widerspruch, um einer fruchtbringenden Diskussion überhaupt erst einen sachlichen Ausgangspunkt zu ermöglichen.

Dass sich das rechtswissenschaftliche Studium seit den 1960er Jahren, wie Frau Chiusi die von ihr so bezeichneten „selbsternannten Reformer“ belehrt, in einer Dauerreform befindet, kann nur richtig finden, wer einen wenig anspruchsvollen Begriff von Reformen hat. Denn das Studium wurde und wird gerade nicht strukturell reformiert; stattdessen wird in kleinschrittigen und verzagten Reförmchen an ihm herumgedoktert ­– formlos, fristlos, fruchtlos. So ist bis heute die dringend notwendige Beschränkung des Stoffes nicht einmal im Ansatz gelungen. Wie eine didaktisch sinnvolle Berücksichtigung der Grundlagenfächer im Studium aussehen könnte, erst vor wenigen Jahren großes Thema, auch darüber weiß man wenig. Und die Entwicklung alternativer Prüfungsformate, etwa in Form von Urteilsbesprechungen, Textkritiken oder Themenaufgaben, auch sie kommt nicht voran, was allen am Prüfungswesen Beteiligten ein bescheidenes Zeugnis ausstellt – aber: Wer soll das denn korrigieren?

Frau Chiusi meint, das gegenwärtige Studium der Rechtswissenschaft mit seinem Abschluss in Form des Staatsexamens aufgrund seiner hohen Qualität und seines internationalen Renommees verteidigen zu müssen. Ob es um den internationalen Ruf des deutschen Jurastudiums tatsächlich so gut bestellt ist, mag dahinstehen, und auch, ob es darauf eigentlich ankommt. Wichtiger ist nämlich, dass die Kollegin es konsequent versäumt, die Maßstäbe zu benennen, an denen sich die Qualität des Studiums eigentlich bemisst. Die These von der hohen Qualität des Studiums und des Staatsexamens bleibt, wie so häufig, eine empiriefreie Behauptung. Ist es die Fähigkeit der Absolventen zur kritischen Reflexion juristischer Dogmatik in ihren sozialen, kulturellen, ökonomischen und historischen Kontexten? Wohl kaum, denn wenn, wie Frau Chiusi erstaunlicherweise meint, Recht in Sprache gegossene Mathematik ist, kann es um solche Fähigkeiten natürlich auch nicht gehen ­– Generationen von Legal Crits wenden sich mit Schaudern ab. Wenn es diese Fähigkeit also nicht ist, ist es dann vielleicht die methodische Versiertheit, mit der unsere Absolventen Normen historisch, teleologisch, grammatisch, systematisch, verfassungs- und unionsrechtskonform auslegen und dabei selbständig juristische Argumente entwickeln? Oder findet die Qualität ihren Ausdruck darin, eine Flut von Wissen zu akkumulieren und in einer vorgegebenen Form unter Bedingungen zu reproduzieren, die eigentlich nur sich selbst simulieren, aber sicher nicht die Praxis, für die wir angeblich ausbilden – Unberechenbarkeit als Gütekriterium für Prüfungen also? Konsequenterweise haben wir, anders als etwa die Medizin (www.nklm.de), auch keinerlei Debatte über die Entwicklung eines Lernzielkatalogs Rechtswissenschaften ­– weil es bei uns nicht um Leben und Tod geht, sondern nur um Schadenersatz statt der Leistung? Hier erführe man gerne mehr von der Vorsitzenden der Interessenvertretung der deutschen Rechtsfakultäten.

Frau Chiusi verkennt zudem, dass die Einführung des studienbegleitenden Bachelors erhebliche positive Rückwirkungen auf das Studierverhalten und damit auch auf das Staatsexamen haben kann: Assessment drives learning – ein hochschuldidaktischer Allgemeinplatz, der sich in diesem Kontext exzellent exemplifizieren lässt. Denn während gegenwärtig die Studienleistungen für das Examen mit Ausnahme des Schwerpunktbereichs irrelevant sind, würden sie für einen Bachelor wichtig. Der Tunnelblick, mit dem schon Erstsemester auf das Examen starren und das Studium nur für eine lästige Vorstufe der Examensvorbereitung und eben nicht für diese selbst halten, könnte sich weiten, mit Gewinnen auf allen Seiten. Es sind dabei im Übrigen keineswegs nur die kommerziellen Repetitorien, die die Perhorreszierung des Staatsexamens betreiben. Wo bis heute bei Begrüßungen von Erstsemestern regelmäßig nur wenige Minuten vergehen, bis irgendjemand düster dräuend auf die hohen Hürden des Examens und seine krasse Selektionswirkung zu sprechen kommt, ist der Keim der Angst gesät, lange bevor der kommerzielle Repetitor ihn mit reichlich Dünger zum Wachsen bringt.

Der Sicht Frau Chiusis auf alternative Berufs- und Studienwege kann man leider, bei allem gebotenen Respekt, das Urteil der Borniertheit nicht ersparen. Dass ein Bachelor nicht zum Richteramt qualifiziert – so what? Er qualifiziert aber, darauf haben Katharina Boele-Woelki und Jonathan Schramm (Paywall) in einer Antwort auf Frau Chiusi hingewiesen, für den Zugang nicht nur zum internationalen, sondern auch zum nationalen Bildungsmarkt außerhalb der Rechtswissenschaft. Wenn Frau Chiusi ausführt, wer für Jura als Staatsexamensstudiengang „nicht geeignet“ sei, müsse dann eben – es stockt der Atem des Lesers angesichts der nur kokett verhüllten Herablassung ­– „Soziologie oder Politikwissenschaft“ studieren und dürfe nicht auf der Grundlage eines juristischen Bachelors einen Master in Kulturmanagement oder internationalen Beziehungen aufsatteln, dann möchte man sie fragen: Warum denn eigentlich nicht? Es gibt ein Leben jenseits der Rechtspflege, das an vielen Stellen eine solide juristische Grundausbildung gut gebrauchen kann. Rechtswissen als Herrschaftswissen darf auch in der Zivilgesellschaft verbreitet werden und ist kein Vorbehaltsgut des Rechtsstabs. Demgegenüber wirkt die Rhetorik des Beitrags, nach der die Menschwerdung erst mit dem Staatsexamen vollendet sei, in einer hochnotpeinlichen und lange überwunden geglaubten Weise misanthrop und wenig sachdienlich. Roland Schimmel hat alles dazu Nötige gesagt.

Auch dass ein Bachelor für Absolventen aus einkommensschwachen Elternhäusern hilfreich sein kann, die einen zweiten und dritten Studienanlauf ihrer Kinder nicht aus ihren akkumulierten ‚billable hours‘, ihren üppigen Gutachtenhonoraren oder den Erträgen ihres Privatliquidationsrechts finanzieren können, bleibt unterhalb des Horizonts des Beitrags. In einem Studiengang, der gerade für sogenannte ‚Bildungsaufsteiger‘ attraktiv und nachgefragt ist, ist das kein zu vernachlässigender Aspekt und hat mit dem von der Kollegin verächtlich gemachten Losertum nichts zu tun.

Es nimmt nach alldem kaum wunder, dass die Reaktionen auf den Beitrag Frau Chiusis (hier und hier) – und auch in diesem Beitrag – scharf ausfallen. Dass die Vorsitzende des Deutschen Juristenfakultätentages eine politisch und fachlich breit geführte Debatte durch Polemik und Herablassung zu diskreditieren versucht, muss erstaunen und verlangt nach offenem Widerspruch aus den Fakultäten. Denn die strategischen Verkürzungen, Zuspitzungen und Auslassungen in ihrem Beitrag disqualifizieren ihn als ernstzunehmende Stimme in der Debatte. Dabei könnte man, wenn man wollte, durchaus Kritisches zum Bachelor anmerken und in der Forderung nach ihm einen Stellvertreterkrieg sehen, der die eigentliche Auseinandersetzung um die Reform des Jurastudiums nur verschiebt. Denn eigentlich müssen wir nicht über Abschlüsse reden, sondern über Inhalte und Strukturen des Jurastudiums und über Wissen und Kompetenzen, die man in ihm erwerben soll. Aber vielleicht erklärt das die rhetorische Vehemenz des Beitrags von Tiziana Chiusi: Er verteidigt nicht vorrangig das Staatsexamen als Prüfungsformat. Er verteidigt vor allem einen in seinen didaktischen und institutionellen Strukturen notorisch reformunwilligen und von Empirie über seine Effekte und Wirkungen kaum angekränkelten Studiengang ­– und manche seiner Akteure. Das jedenfalls ist klar geworden.

 

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