In den USA ist das Abtreibungs-Thema seit Jahrzehnten eins der am heißesten diskutierten verfassungspolitischen Themen überhaupt. An Roe vs. Wade, das Grundsatzurteil des Supreme Court von 1973 zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, scheiden sich nach wie vor die politischen wie die verfassungsrechtlichen Geister. Bekommt jetzt auch Europa ein ähnliches Urteil – mitsamt einer ähnlich polarisierten Debatte?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat letzte Woche über eine Klage dreier Irinnen verhandelt, die das rigide Abtreibungsverbot in Irland als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) angreifen. Im erzkatholischen Irland steht auf illegale Abtreibung lebenslange Haft. Das Recht des Fötus auf Leben steht in der Verfassung. Bei extremer Gefahr für das Leben der Mutter kann zwar seit einem Urteil des irischen Supreme Courts 1992 die Schwangerschaft abgebrochen werden. Aber auch dafür gibt es keine rechtlichen Regeln, so dass kaum ein Arzt sich bereit findet, den Eingriff vorzunehmen. Denn wenn sich dann doch herausstellt, dass der Abbruch nicht erlaubt war, droht ihm der Verlust seines Berufs und im schlimmsten Fall Lebenslang.
Die Befürchtung, die EU-Grundrechtecharta könnte diese Verfassungsnorm kippen, war einer der Gründe für das erste Nein-Referendum der Iren zum Lissabon-Vertrag gewesen. EMRK und Grundrechtecharta haben bekanntlich nichts miteinander zu tun, die eine gehört zum Europarat und zu Straßburg, die andere zur EU, zu Brüssel und zu Luxemburg – zwei völkerrechtliche Organisationen mit unterschiedlicher Rechtsgrundlage und unterschiedlichen Mitgliedern. Aber das wird die konservativen Euroskeptiker dies- und jenseits des Kanals nicht hindern, ein Abtreibungsurteil aus Straßburg als Beweis für ihre Verschwörungstheorien zu werten.