8. Januar 2012

Christoph Möllers

Acht Thesen zur Juristerei als Wissenschaft

Im Moment tagt beim Wissenschaftsrat eine Kommission, die den Wissenschaftsstatus der Rechtswissenschaften diskutiert. Dieses Thema: Wie funktioniert die Juristerei als Wissenschaft an den Universitäten? ist wichtig und lange vernachlässigt, wiewohl es in den letzten Jahren eine kleine Konjunktur erlebt hat. Zu lange hat das Fach auf seine institutionelle Macht vertraut, seine Verbindungen zu Politik, Verwaltung und Justiz. Im Öffentlichen Recht waren die 1980er Jahre der Tiefpunkt einer politisierten wissenschaftsvergessenen Disziplin, die keine Fremdsprachen sprach. In diesem Vermachtungszusammenhang sind die Schwächen der Disziplin überdeckt worden, aber auch ihre spezifischen Stärken verloren an Kontur. Das Thema ist komplex, weil sich lange Traditionslinien, aktuelle Entwicklungen im wissenschaftlichen Feld und ein globaler Diskurs über Recht und Rechtswissenschaften überlappen. Einige Thesen seien formuliert:

  1. Um 1800 – einem entscheidenden Moment in der deutschen Wissenschaftsgeschichte – kulminiert in der anderen großen dogmatischen Disziplin, der Theologie, eine lange vorbereitete entscheidende Entwicklung, die man an Schleiermacher festmachen kann. Theologie wird nun auch als Religionskritik verstanden, Kritik aber ist spätestens seit Kant ein bedeutendes wissenschaftliches Paradigma. Savigny, der entscheidende juristische Epochengenosse Schleiermachers, geht diesen Schritt nicht mit. Jurisprudenz wird nicht zur Rechtskritik und ist es im dominanten rechtswissenschaftlichen Diskurs – trotz einiger Versuche in den 1970ern – bis heute nicht geworden. Man muss kein Anhänger der amerikanischen Critical Legal Studies sein, um anzuerkennen, dass Rechtskritik eine wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaften auch hierzulande sein müsste.
  2. Das Handwerk juristischer Argumentation auf Grundlage des positiven Rechts zu lehren, ist ein zentrales Element akademischer Rechtswissenschaft. Die Frage ist nur, wie die Wissenschaft mit diesem Handwerk umgeht. Ein großer amerikanischer Meister des internationalen Privatrechts, der die deutschen Rechtswissenschaften gut kennt, meinte einmal: „In Germany, they tend to be mastered by the doctrine, instead of mastering it.“ Mir scheint das sehr treffend. Man kann sich juristische Argumente als eine Sprache vorstellen. In einer Sprache kann man Fehler machen, und man muss lernen, diese zu vermeiden. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass man eine Sprache gut beherrscht, wenn man sich darauf beschränkt, Fehler zu vermeiden. Ein offener Umgang mit juristischen Argumenten, der sich bewusst ist, dass sich auch diese weiterentwickeln müssen, tritt in unserer Wissenschaft zu häufig gegenüber der Lehre von Fehlervermeidung zurück. Was tun? Eine gute juristische Lehre muss stets zwei Perspektiven einnehmen, diejenige der gerade herrschenden argumentativen Praxis und die der kritischen Reflexion und des Weiterentwicklungspotential ihrer Argumente. Eine solche Lehre kann es aber nur geben, wenn dem eine entsprechend kritische Forschung vorausgeht.
  3. Das Problem der Juristenausbildung ist auch ein Problem der Hochschullehrer und ihrer Forschung: Die deutschen Professoren sind nicht schlechter als die Kollegen anderer Fächer, aber ihrer eigenen Ausbildung nach sind sie nicht gut auf Wissenschaft vorbereitet. Sie haben vor der Promotion wenige Seminararbeiten geschrieben, aber sehr viele Fälle gelöst. Viele kompilatorische Qualifikationsarbeiten zeugen von dem Problem. Gerade die Habilitationen werden, dies ist der allgemeine Eindruck, sogar in der Rechtswissenschaft selbst kaum noch rezipiert. Wissenschaftlichkeit wurde in den Rechtswissenschaften sehr lange Zeit über den bürgerlichen Bildungsstand vermittelt, den die Professoren ohnehin hatten, in dem sie in ihren Studium breit lasen und Veranstaltungen anderer Disziplinen besuchten. Das klappt in der Bundesrepublik nicht mehr. Nicht wenige Kollegen ahnen das, klammern sich aber an praktische Inhalte und das Verfassen von Ausbildungsliteratur, anstatt sich dem Problem zu stellen und sich auch nach der Habilitation intellektuell weiterzuentwickeln. Sie drehen die Beweislast und beanspruchen, für sich „richtige“ Rechtswissenschaft zu betreiben. Sie behaupten (siehe 2.), man würde das Proprium der eigenen Disziplin aufgeben, wenn man sich mit anderem als dem positiven Recht in der von ihnen betriebenen Art und Weise beschäftigen würde. Das erscheint als Selbstschutz: Man ist kein guter Praktiker, nur weil man kein Theoretiker ist. Was tun? Schafft man die Habilitation ab, werden schon die Promotionen konventionell, die im Moment noch in deren Windschatten wissenschaftlich viel interessantere Ergebnisse bringen. Gute Wissenschaft lässt sich nicht regulieren, sie entsteht durch Vorbild und auch durch glückliche Fügung. Der Druck, den das Wissenschaftssystem auf die juristischen Fakultäten ausübt, sich auch mit anderen Fakultäten, auch in größeren Forschungszusammenhängen zu bewähren, kann in keinem Fall schaden.
  4. Die Ausbildung ist zu wenig theoretisch – sie ist aber zugleich zu wenig praktisch. Die einzige Prüfungstechnik, die wirklich Ähnlichkeit mit der juristischen Praxis hat, die Fall-Hausarbeit, tritt gegenüber Klausuren mehr und mehr zurück. Reden und Schreiben werden nicht gelehrt, sondern den „Schlüsselqualifikationen“ überwiesen, die kaum jemand ernst nimmt. Dieses Problem hat auch etwas mit den miserablen Lehrkapazitäten zusammen, für die die juristischen Fakultäten nichts können. Was tun? Neben einer Verknappung der Studienplätze wäre mehr Phantasie bei der Ausgestaltung der Lehrveranstaltungen gefragt: Moot Courts sind hier ein wichtiges Vorbild, die Einführung von Law Clinics, die Lehre von juristischen Schreiben jenseits des armseligen so genannten „Gutachtenstils“ – auch Gutachten können gut geschrieben sein – wären andere.
  5. Die Stärke der deutschen Rechtswissenschaften hängt umgekehrt auch mit ihrer Unzeitgemäßheit und Modernisierungsskepsis zusammen. Wissenschaftliche Moden wurden gemieden, und der Bezug auf das positive Recht hat dem Fach Identitätskrisen erspart, wie sie etwa die amerikanischen Law Schools im Moment erleben, wenn sie mit der Irrelevanz ihres Lehrstoffs konfrontiert wird. Das bedeutet, dass wir unsere Formen, nachdem wir sie geprüft haben, offensiv gegenüber einem angelsächsischen Modell verteidigen sollten, das auf quantitative Zitatmessung von Papers setzt. Gerechtfertigt würde dieser Widerstand nicht zuletzt durch die ungeheure Neugier auf die deutsche Rechtsordnung und die deutschen Rechtswissenschaften in allen Teilen der Welt – außerhalb der USA. Die deutsche Rechtswissenschaft ist einer der wenigen international relevanten nationalen Wissenschaftsdisziplinen. Allerdings müssen wir diese Neugier auch befriedigen. Dies ist auch in Genres wie Gesetzeskommentierungen und Lehrbüchern möglich – aber eben nicht mehr in deutscher Sprache. Was tun? Es wird darum gehen, ein Übersetzungsprojekt im wörtlichen wie im übertragenen Sinne zu beginnen, in dem wir unseren Zugang zu Recht zu erklären haben, dies aber nicht mehr mit einer rein belehrenden Attitüde tun, die lange Zeit im Umgang mit anderen Rechtsordnungen dominiert hat.
  6. Der politische Prozess hat gar keine andere Wahl, als auch das Jura-Studium nach Kosten und Nutzen zu befragen. Auf den ersten Blick könnte man hier eine durchaus vernichtende Bilanz ziehen: Zweifelhafte wissenschaftliche Erfolge, die sich etwa in der sehr mageren Beteiligung an Projektforschung zeigen, werden durch ein Versagen in der Lehre ergänzt, das im Repetitorenwesen und einer enorm hohen Mißerfolgsquote in der Abschlussprüfung zum Ausdruck kommt. Das juristische Staatsexamen sorgt für sehr viele verlorene Lebensjahre. Auf den zweiten Blick sieht das Bild anders aus: Die besten 15-20 % Absolventen sind nach internationalen Standards erstklassige Juristen, dies zeigt ihre Werdegang in amerikanischen Law Schools oder in Institutionen wie der Europäischen Kommission. Auch diese Studierenden wurden unter miserablen Bedingungen ausgebildet, für die die Fakultäten nichts können. Was tun? Auf Dauer wird eine gute Juristenausbildung nur durch eine dramatische Verknappung der Studienplätze bei Beibehaltung der bestehenden Lehrkapazitäten funktionieren. Nur mit deutlich weniger Studierenden können wir für die Erfolge und Misserfolge in der Lehre in die Verantwortung genommen werden.
  7. Das Staatsexamen verkoppelt das Rechtsystem mit der Rechtswissenschaft. Durch das Examen bekommt die deutsche Rechtswissenschaft eine besondere gesellschaftliche Relevanz und relativ großen gesellschaftlichen Einfluss. Zugleich ist die Examensfixierung ein großes Hindernis für die Verwissenschaftlichung der Disziplin. Es gehört zu den Ironien dieses Diskurses, dass in den Fakultäten fast niemand die Abschaffung des Staatsexamen will, obwohl es der Einheit von Forschung und Lehre im Wege steht – oder eben „Forschung“ auf das Verfassen von Ausbildungsliteratur reduziert; während in der Politik viele kritischen Stimmen laut werden, obwohl vieles dafür spricht, dass unser Prüfungswesen der beispiellosen Qualität des Rechtssystems sehr gut tut. Ich würde einem Land ohne Staatsexamen jedenfalls lieber forschen als vor Gericht stehen. In jedem wird der Druck, Drittmittel einzuwerben und interdisziplinär zu arbeiten, Teile der Professoren langsam aus dem Prüfungsbetrieb herausziehen. Was tun, wenn man das Examen nicht abschaffen will? Die Theorie ins Staatsexamen packen und das bedeutet: Wissenschaftsfähige Nebengebiete wie Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechtssoziologie und Rechtspolitik als Pflichtfächer zu definieren und zum Prüfungsstoff zu machen. „Recht im Kontext“ muss in die Prüfung. Die Rückwirkungen auch für die Forschung wären immens.
  8. Schließlich – so viel Diskursgläubigkeit sei gestattet – müssen wir als Disziplin über diese Fragen öffentlich debattieren. Nach der Veröffentlichung eines kritischen Artikels zum Stand unseres Faches fragten viele Kollegen Michael Heinig und mich, wie wir uns denn öffentlich derart über das eigene Fach äußern könnten. Die Antwort: Wir sind kein Unternehmen und kein Verband, sondern eine öffentlich finanzierte Wissenschaft. Wir haben eine Pflicht, uns über unsere Stärken und Schwächen öffentlich auszutauschen. Wenn wir davor Angst hätten, wäre diese Angst begründet.

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