Der Bielefelder Europarechtler Franz Mayer hat heute bei der Anhörung zum Lissabon-Begleitgesetz ein prophetisches Wort gesprochen: „Wenn zwei verschiedene Akteure das ,letzte Wort‘ in Anspruch nehmen, hört das, was Recht zu leisten vermag, auf. Dann wird’s politisch.“
Wie er das genau gemeint hat, weiß ich auch nicht. Aber in einem Sinn hat er zweifellos Recht, und das hat die heutige Anhörung eindrucksvoll gezeigt: Der drohende „Krieg der Richter“ zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof, der Konflikt um das „letzte Wort“ bei der Kompetenzkontrolle der Europäischen Union, wird in der Tat zu allererst die Politik unter Entscheidungszwang setzen.
Verfassungs- und Justizkonflikt
Die Experten sind sich quer durch alle Couleur einig: Mit dem im Lissabon-Urteil dramatisch ausgeweiteten Anspruch der Verfassungsrichter, Europarecht gegebenenfalls für unanwendbar in Deutschland zu erklären, steht uns ein Verfassungs- und Justizkonflikt mit potenziell unabsehbaren Folgen ist Haus. Denn ein solches Urteil würde zu einem Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH führen, zu millionenschweren Sanktionen gegen Deutschland, und im Extremfall würde Deutschland nur noch die Möglichkeit des Austritts aus der EU übrigbleiben (näheres dazu hier im Blog, sowie hier und hier).
Mayer und 30 andere hochrangige Juristen haben deshalb einen Aufruf unterschrieben, der einen Ausweg aus dem Dilemma weist: Der Gesetzgeber soll im Bundesverfassungsgericht festlegen, dass im Konfliktfall das Bundesverfassungsgericht eine Vorabentscheidung des EuGH einholen muss – wozu es europarechtlich sowieso verpflichtet wäre. „Diese Pflicht sollte man auch ins Gedächtnis des BVerfG rufen“, sagte Ingolf Pernice, ebenfalls Mitunterzeichner des Aufrufs. Sein Kollege Christian Calliess, auch er Mitunterzeichner, erinnerte kühl daran, dass die von Karlsruhe beschworene Integrationsverantwortung alle drei Gewalten binde, also auch das Bundesverfassungsgericht selbst.
Europarechtliches Müssen und verfassungsrechtliches Dürfen
Am anderen Ende des europapolitischen Spektrums ist Dietrich Murswiek unterwegs, der Freiburger Erz-Etatist und Gauweilers Prozessvertreter im Lissabon-Verfahren. Auch er warnt vor einem „Knall“ zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassungsgericht. Aber die Schlussfolgerung, die er aus dem Bedrohungsszenario zieht, sieht ganz anders aus: Das BVerfG habe den Lissabon-Vertrag zwar für verfassungsgemäß erklärt, aber unter Bedingungen – und dazu gehöre nun einmal, dass das letzte Wort in Karlsruhe gesprochen werden müsse. Da der EuGH das bestimmt anders sehe, sei der Konflikt programmiert. Aber entschärft werden könne er nur auf völkerrechtlicher Ebene – mit einer Klarstellung, dass Deutschland den Lissabon-Vertrag nur in der vom BVerfG ausgelegten Form ratifiziere. „Verfassungsrechtlich sind wir festgelegt. Wir können jetzt nur noch dafür sorgen, dass es nicht zu der völkerrechtlichen Divergenz kommt.“ Oder mit den Worten des Bonners Christian Hillgruber: Es gehe darum, den „Gleichklang von europarechtlichem Müssen und verfassungsrechtliches Dürfen sicherzustellen“.
Das sind also die zwei Alternativen: Entweder schreibt der Gesetzgeber dem BVerfG eine Vorlagepflicht zum EuGH ins Gesetz – und gibt damit das letzte Wort nach Luxemburg. Oder er beugt sich dem Anspruch aus Karlsruhe, das letzte Wort zu behalten, und erzwingt dies, indem er seine Zustimmung zum Lissabon-Vertrag nachträglich einschränkt und so diesen Anspruch auf die Ebene des Völkerrechts hebt.
Das Problem ist nur: Die zweite Möglichkeit geht ziemlich sicher völkerrechtlich gar nicht. Und die erste Möglichkeit hätte gute Chancen, in Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt zu werden.
Scharia-Vorbehalt
Dass das Primat des Bundesverfassungsgerichts völkerrechtlich kaum verbindlich gemacht werden kann, darin waren sich die versammelten Völker- und Europarechtler einig: Eine Zustimmung unter Vorbehalt ist bei europäischen Verträgen ausgeschlossen. Die europäischen Verträge seien ihrem Sinn und Zweck nach Produkte der Konsenssuche; einseitige Vorbehalte seien damit schlechthin unvereinbar, erinnerte Armin von Bogdandy, Direktor des MPI für Völkerrecht in Heidelberg. „Lissabon ist die konsensuale Abbarbeitung von 100.000 Punkten, wo Länder Vorbehalte hatten.“ Ohnehin würden solche Vorbehalte hauptsächlich von muslimischen Ländern in Anspruch genommen, die Menschenrechtsvereinbarungen unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Scharia stellten. „Ähnlich wäre es zu sagen, wir machen es unter Vorbehalt des Karlsruher Orakels.“
Eine andere Möglichkeit, ein Zusatzprotokoll zum Lissabon-Vertrag, müssten alle anderen Mitgliedsstaaten unterzeichnen – und sich damit den Karlsruher Richtern unterwerfen. Ein unwahrscheinliches Szenario, wie der Berliner Europarechtler Christian Calliess zu bedenken gab.
Rechts fahren, links blinken
Somit bleibt die Möglichkeit einer bloßen Erklärung durch den Bundestag. Die wäre zwar rechtlich völlig unverbindlich, aber politisch keineswegs irrelevant: Wenn der größte EU-Mitgliedsstaat seine Zustimmung zur künftigen Rechtsgrundlage der EU einerseits uneingeschränkt und mit überwältigender Mehrheit beschließt, andererseits aber erklärt, dass er dieselbe in Deutschland nur eingeschränkt gelten lassen will – dann ist der europapolitische Schaden so groß, dass die rechtlichen Konsequenzen fast auch schon wurscht wären.
Für die Murswiek-Fraktion unter den Verfassungsrechtlern sieht die Sache freilich anders aus. Ein völkerrechtlicher Vorbehalt sei „die sauberste Lösung“, sagte Hillgruber unter heftigem Kopfnicken von Murswiek. Schließlich hätten die Iren nach dem Nein-Referendum sich auch allerhand Änderungen verbindlich versprechen lassen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was man Irland gegeben hat, man Deutschland verweigern würde“.
Was für eine Scheinheiligkeit: So ist aus dem Extrem- und Sonderfall in einem „traditionellen katholischen Land an der Peripherie Europas“ (Bogdandy), bei dem es um die Rettung der EU in letzter Minute und mit quietschenden Reifen ging, flugs ein europapolitischer Normalfall geworden, der auch dem größten und bislang europafreundlichsten Mitgliedsstaat umstandslos zur Verfügung steht, wenn er ein paar eigensinnige Verfassungsrichter zufriedenstellen muss. Dann kann man sich die EU auf den Hut stecken. Was Hillgruber und Murswiek vermutlich einen ganz vergnüglichen Gedanken finden.
Hier muss ich kurz was loswerden: Bei dem Gedanken, dass das erfolgreichste Friedens-, Demokratie- und Rechts-Sicherungs-System, das die Menschheit seit den Tagen des Homo Erectus zustande gebracht hat, ausgerechnet von deutschen Verfassungsrechtlern gekillt werden könnte, wird mir speiübel. Ernsthaft. Dann kann mir das Verfassungsrecht gestohlen bleiben. Dann will ich mit dem Verein nichts mehr zu tun haben. Dann werde ich Sportreporter.
Zur Raison gebrachte Bayern
So. Zurück zur Anhörung. Wir haben noch die zweite Möglichkeit, den Verfassungskonflikt zu entschärfen, die Vorlagepflicht des BVerfG an den EuGH. Den könnte man ins BVerfGG schreiben, wenn man der Anregung aus Karlsruhe folgt, eine neue Verfahrensart der Identitäts- und Ultra-Vires-Kontrolle zu schaffen. Im Bundesrat, so ist zu hören, hat Baden-Württemberg auf diese Weise die Bayern zur Raison gebracht: Deren Verlangen, auch die verfassungsprozessualen Fragen noch in dieser Legislaturperiode zu regeln, konterten die Schwaben mit dem ruhigen Hinweis, dass man dann auch über die Vorlagepflicht reden müsse. (Nachtrag 28.8., 11:25 Uhr: Hillgruber warnte denn auch auf Frage Bayerns davor, die Kompetenzkontrollklage gesetzlich zu regeln. „Man will das Verfassungsgericht offensichtlich ausbremsen.“ Daher müsse man aufpassen, dass die Gesetzgebung nicht „von interessierten politischen Kreisen“ zu diesem Zweck ausgenutzt werde.)
Damit vertagt sich die Sache auf die nächste Legislaturperiode. Ob der 17. Deutsche Bundestag so viel Mannesmut vor Richterthronen aufbringt? Selbst wenn – Karlsruhe könnte eine solche Vorlagepflicht einfach als verfassungswidrig kassieren. Andreas Fisahn, Staatsrechtler aus Bielefeld, erklärte, wie das geht: Das Bundesverfassungsgericht habe „sehr deutlich darauf gepocht“, dass es die Souveränitätsrechte der Bundesrepublik energisch zu schützen gedenkt. Ein Kläger stünde in Gestalt der Linkspartei-Fraktion bereits parat. Deren europapolitischer Sprecher sorgte zu Beginn der Anhörung kurz für kopfschüttelndes Gelächter, als er gegen den erwähnten Aufruf der 30 Juristen mit dem Radikalenerlass in Verbindung brachte: Wären die Unterzeichner bei der DKP, wären sie ihren Job sofort los.
Europarechtler als Fall für den Verfassungsschutz – das ist auch für einen Antieuropäer ziemlich wacky. Aber da sieht man mal, wie weit da manche zu gehen bereit sind.
Nachtrag 27.8., 9:00 Uhr:
Verfassungsschutz ist ja noch milde. Bogdandy hat gerade darauf hingewiesen, dass im Internet Positionen kursieren, die Unterzeichner des Aufrufs gehörten „an die Punktpunktpunkt gestellt“.
Kluge Replik darauf von Bogdandy: Es gehe den Unterzeichnern gerade darum, einen Weg zu zeigen, auf dem Konflikte zivil gelöst werden können und nicht an der Punktpunktpunk.