2. Mai 2020

Heiko Sauer

Auch die Schulpflicht sollte gelockert werden

Öffentlich weitgehend unbemerkt hat sich die nordrhein-westfälische Landesregierung eine Kommunikationspanne geleistet. Am Donnerstag um 13:13 Uhr erhielten die Schulen in NRW die insgesamt 17. „Schulmail“ des FDP-geführten Schulministeriums (alle abrufbar hier), welche die Schulen umgehend zur Information an die Eltern weiterleiteten. Zu diesem Zeitpunkt war die Telefonkonferenz der Ministerpräsident*innen mit der Bundeskanzlerin nicht beendet. Kern der Nachricht war, dass nicht nur – wie bereits beschlossen – der Unterricht für die Abschlussklassen am 7. Mai 2020 beginnen soll, sondern es ab dem 11. Mai 2020 an jedem Tag der Woche Präsenzunterricht für einen Jahrgang geben soll: Jedes Kind soll also nach einem festen Plan bis zu den Sommerferien an (nur) einem Tag in der Woche die Schule besuchen.

Man las das ungeachtet der Frage der pädagogischen Sinnhaftigkeit mit Erstaunen. Denn das in den letzten Wochen erworbene epidemiologisch-virologische Alltagswissen lässt einen daran zweifeln, dass alle Familien gleichzeitig eine Öffnung ihres Kontaktumfelds vornehmen sollten, indem jedes Kind in Kontakt mit vielen anderen Kindern kommt – wenn auch mit deutlich weniger Kindern als sonst. War nicht das schritt- und stufenweise – und deshalb „lernende“ – Lockern nach dem Robert-Koch-Institut und anderen Expert*innen das Gebot der Stunde? Und welchen Sinn sollten verbleibende Pflichten zum social distancing noch ergeben, wenn ein rollierender Präsenzunterricht für alle Kinder vorgegeben wird?

Man wird den Eindruck nicht ganz los, als sollten hier die Schulen als Hebel für eine umfassende Revision des Lockdowns eingesetzt werden, für die in NRW ohnehin vehementer eingetreten wird als anderswo. Gern würde man wissen, wie das bei Familien angekommen ist, in denen Mitglieder zur Risikogruppe gehören.

Freilich war das Vorgehen des Schulministeriums nach späterer Aussage des Ministerpräsidenten nicht in der Regierung abgestimmt. Und so sah sich das Ministerium inzwischen zu der „Präzisierung“ veranlasst, selbstredend handle es sich um gleichsam aufschiebend bedingte Pläne, die erst und nur in Kraft träten, sofern die Kultusminister*innen am 6. Mai 2020 entsprechende Öffnungsbeschlüsse träfen. Nun sind pro-aktive Planungen gerade jetzt nicht zu kritisieren; man sollte sie aber nicht so an die Eltern weitergeben, als wären sie bereits beschlossen, wenn ihnen dann die Bundeskanzlerin am gleichen Abend im Fernsehen sagt, dass gerade nichts beschlossen wurde. Der Vorgang ist auch deshalb erstaunlich, weil gerade in NRW eigentlich noch in frischer Erinnerung sein müsste, dass über Schulpolitik Landtagswahlen verloren werden und dass gerade das Schulministerium in besonders kompetenter Hand liegen sollte.

Keine Wahlfreiheit im „rollierenden Modell“

Wenn also nun ein „rollierendes Modell“, in dem jedes Schulkind an einem festen Tag in der Woche in die Schule geht, an die Stelle des regulären Schulbetriebs treten sollte, so ist es von der allgemeinen Schulpflicht erfasst (§§ 34 ff. SchulG NRW). Es gibt dann keine Wahlfreiheit, ob man gehen möchte oder das für zu riskant hält. Verfassungsrechtlich greift die allgemeine Schulpflicht in das Erziehungsrecht der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 GG ein. Sie ist, um dies klarzustellen, allerdings nicht nur gerechtfertigt, sondern aus Gründen des Gemeinwohls auch geboten – es geht hier also ausdrücklich nicht darum, einem allgemeinen Homeschooling das Wort zu reden. Schon in der Normallage ist freilich Korrelat der elterlichen Verpflichtung, ihre Kinder dem staatlichen Bildungssystem anzuvertrauen, die Verpflichtung des Staates, das Schulsystem so zu organisieren und nicht zuletzt zu finanzieren, dass allen Kindern bestmöglich und gerecht Bildungschancen eröffnet und zu Bildungserfolgen verholfen wird. Die Länder und die Kommunen sind deshalb auch dann dazu verpflichtet, zeitgemäße Lernumgebungen zu schaffen, wenn sie dem Bund dafür kein finanzielles Hilfsprogramm entlocken können.

Wer immer darauf pocht, dass Bildung Ländersache ist, muss auch den Beweis dafür erbringen, dass die Bildung bei den Ländern gut aufgehoben ist. Dass die Realität anders aussieht, zeigt sich unter den derzeit herrschenden Umständen eklatanter als sonst, etwa wenn Kinder in der „Notbetreuung“ nicht an Videokonferenzen teilnehmen können, weil die Schule nicht online ist. Für Eltern ist das nichts Neues, es ist nur gerade besonders bedauerlich, weil die Folgen der Pandemie für die Schulkinder deutlich besser aufgefangen werden könnten, wenn das öffentliche Schulsystem nicht in vielen Ländern so hanebüchen unterfinanziert wäre. 

Das alles ist mehr als misslich, aber nicht verfassungswidrig. Rechtlich heikel wird es jedoch mit dem „rollierenden Modell“ und auch mit anderen schulbezogenen Lockerungsvorschlägen:  So enthält das nordrhein-westfälische Landesrecht bisher keine Regelung, die auf Kinder angewendet werden könnte, deren Eltern das mit dem Präsenzunterricht in Corona-Zeiten verbundene Infektionsrisiko zu hoch ist, weil sie selbst oder weil Geschwisterkinder zur Risikogruppe gehören.

Wenn nicht auch hier – rechtlich – gelockert würde, müssten sie ein für sie ungleich schwerer als für gesunde Menschen zu tragendes Infektionsrisiko eingehen. Denn alle noch so gut gemeinten Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen können das Risiko nur verringern und nicht beseitigen. Dabei sollte man insbesondere bedenken, dass diese Maßnahmen jedenfalls für Grundschulkinder der Eingangsklassen nur schwer bis gar nicht durchzuhalten sind. Zudem wissen wir ebenfalls seit gestern durch eine Studie von Christian Drosten, dass Kinder das Virus nicht anders und nicht weniger übertragen als Erwachsene. Der Ertrag sub specie Bildungserfolg und soziale Interaktion der Kinder erscheint jedenfalls im „rollierenden System“ mit einem Schulbesuch von einem Tag in der Woche aber doch relativ gering.

Härtefallklausel

Bei einem solchen Missverhältnis muss sich die allgemeine Schulpflicht fragen lassen, ob sie ohne Lockerung für besonders gefährdete Personen noch verfassungskonform ist. Das ist zu bezweifeln: Das Gegengewicht zum Eingriff in das Elternrecht ist ja nur ein sehr fragmentarisches Bildungspotenzial, zu dem sich ein erhöhtes Infektionsrisiko gesellt, dessen individuelle Zumutbarkeit eben sehr unterschiedlich ist. Die an sich verfassungskonforme Schulpflicht muss deshalb so gestaltet werden, dass niemand dazu gezwungen wird, sich oder die Kernfamilie einem Infektionsrisiko auszusetzen, das zu erheblichen Gesundheitsgefahren bis hin zur Lebensgefahr führen könnte, wenn es sich realisiert.

Hier ist jedenfalls eine Härtefallklausel geboten, die man deshalb braucht, weil die Schulverwaltung nicht einfach das Schulgesetz aussetzen darf, wenn man nicht allgemein von einer behördlichen „Normverwerfungskompetenz“ ausgehen will. Dabei kommt es für die verfassungsrechtliche Bewertung nicht darauf an, ob man der wachsenden Gruppe angehört, welche die staatliche Antwort auf die Pandemie ohnehin für überzogen hält, oder ob man die strengen, im europäischen Vergleich allerdings noch moderaten Maßnahmen für grundsätzlich angemessen hält. Denn mit dem steigenden Infektionsrisiko für Familien mit Kindern und damit für die Gesamtbevölkerung steigen auch die verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen für die allgemeine Schulpflicht.

Das heißt nicht, dass diese nicht mehr erfüllt werden könnten. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es epidemiologisch vertretbare Konzepte gibt, deren Applikationseignung in Relation zum Alter der betroffenen Kinder gesetzt werden müsste, und dass Erfahrungswissen sukzessive eingearbeitet wird, wofür ein stufenweises Vorgehen fast schon unerlässlich ist. Wenn stattdessen von staatlicher Seite eher erratisch-effekthascherisch vorgegangen wird („Jedes Kind soll vor den Sommerferien seine Schule besuchen!“), ist eine Vielzahl von verwaltungsgerichtlichen Eilanträgen zur individuellen Aussetzung der Schulpflicht vorprogrammiert.

Solche Anträge gibt es in NRW für Schüler*innen der vierten Klassen bereits. Die Landesregierungen sollten darauf mit dem Vorschlag einer temporären Lockerung der Schul(präsenz)pflicht jedenfalls für Angehörige der Risikogruppen reagieren. So könnte etwa § 40 Abs. 1 SchulG zum Ruhen der Schulpflicht um einen weiteren Tatbestand ergänzt werden, etwa so: „Die Schulpflicht ruht für Kinder und Jugendliche während einer Pandemie, wenn sie oder ihre mit ihnen in einem Haushalt lebenden Angehörigen zu Gruppen gehören, die durch die Pandemie besonders gefährdet sind.“ Wem das zu allgemein erscheint, mag die Gesetzesänderung befristen. Ob man darüber hinausgehen will, ist eine nicht fernliegende politische Frage, verfassungsrechtlich aber nicht vorgegeben. Diskutiert werden sollte über entsprechende Lockerungen unbedingt, auch schon vor dem und vor allen dann am 6. Mai 2020. Den Betroffenen mitteilen sollte man sie aber erst, wenn sie auch wirklich beschlossen sind.

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