9. Juli 2018

Michael Hein

Ausgrenzen oder integrieren? Verfassungs­richter­wahlen mit oder gegen die AfD

Am 14. Juni dieses Jahres wählte der Landtag von Baden-Württemberg die Unternehmensberaterin Sabine Reger zur Richterin am Verfassungsgerichtshof des Bundeslandes. Damit wurde erstmals eine von der Alternative für Deutschland (AfD) nominierte Kandidatin Mitglied eines der 17 Verfassungsgerichte in der Bundesrepublik. Die Laienrichterin Reger wurde jedoch kaum unterstützt. Während sie im ersten Wahlgang am 6. Juni mit 29 zu 36 Stimmen (bei 56 Enthaltungen) glatt durchgefallen war, erhielt sie beim zweiten Versuch nur eine knappe einfache Mehrheit von 30 zu 28 Stimmen, die erst durch die erneut hohe Zahl von 65 Enthaltungen ermöglicht wurde. Immerhin stimmten dabei aber mindestens zehn Abgeordnete anderer Fraktionen für die AfD-Kandidatin. Für die Wahl der Landesverfassungsrichter genügt in Baden-Württemberg gemäß § 2 Abs. 2 VerfGhG BW bereits eine einfache Stimmenmehrheit.

Die Debatte um den steigenden Einfluss der rechtspopulistischen, in Teilen offen rechtsradikalen AfD, die sich zuletzt etwa auf eine mögliche Regierungsbeteiligung in Sachsen nach den 2019 anstehenden Landtagswahlen oder auf die Gründung einer eigenen parteinahen Stiftung konzentrierte, hat die Besetzung der Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder bisher kaum in den Blick genommen. Gleichwohl stehen die von der AfD als „Altparteien“ verschrienen Kräfte in einem Dilemma: Einerseits sollten nur Personen zu Verfassungsrichtern gewählt werden, die sich eindeutig dem Schutz der Grundrechte und des demokratischen Rechtsstaates verschrieben haben. Andererseits soll die überall praktizierte parlamentarische Richterwahl ein adäquates Maß demokratischer Repräsentativität sichern.

Im Umgang mit diesem Dilemma zeichnen sich bisher drei Strategien ab. Die erste Strategie ist die „Ausgrenzung“ der AfD. Hier legen die anderen Parteien Wahlvorschläge vor und versuchen, die notwendige parlamentarische Mehrheit ohne die AfD zu erreichen. Ein solches Vorgehen ließ sich beispielsweise in Thüringen (2015, 2018), Rheinland-Pfalz (2017) und Nordrhein-Westfalen (im März und Juni 2018) beobachten. Auf der einen Seite verhindert dies die Nominierung rechtspopulistischer oder gar verfassungsfeindlicher Kandidaten. Auf der anderen Seite beschränkt es jedoch die demokratische Repräsentativität der Richterbestellung und ermöglicht der ausgegrenzten AfD, sich als Opfer zu präsentieren (was sie etwa in Thüringen 2015 mit einem Boykott der Abstimmung auch tat). Gerade in den ostdeutschen Bundesländern, wo durchweg Zweidrittelmehrheiten für die Wahl der Verfassungsrichter notwendig sind, die AfD aber bereits bis zu ein Viertel der Abgeordneten stellt, macht die Strategie der Ausgrenzung die Verständigung auf Kandidaturen zudem schwierig. In Thüringen führte dies jüngst sogar dazu, dass das Amt des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes für drei Monate unbesetzt blieb, da sich die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU nicht auf einen Kandidaten einigen konnten.

Eine zweite Strategie lässt sich als „bedingte Integration“ beschreiben. Hierbei teilen die Fraktionen das Nominierungsrecht nach dem Proporzprinzip untereinander auf und überlassen es den einzelnen Parteien, für ihre Vorschläge um Zustimmung zu werben. Diese Strategie wurde in Baden-Württemberg angewandt, was schon deshalb bemerkenswert erscheint, da angesichts der lediglich erforderlichen einfachen Mehrheit die AfD denkbar leicht auszugrenzen gewesen wäre. Stattdessen verzichteten Bündnis 90/Die Grünen, CDU, SPD und FDP zu Gunsten der Rechtspopulisten auf eine von insgesamt sechs Kandidaturen. Während die von den vier erstgenannten Parteien Nominierten am 6. Juni 2018 mit breiten Mehrheiten, die auch Stimmen aus den Reihen der AfD umfassten, gewählt wurden, fiel die AfD-Kandidatin zunächst durch und wurde erst in einem zweiten Wahlgang mit dem eingangs genannten, schwachen Ergebnis gewählt.

Eine „bedingte Integration“ vermag mithin der AfD noch mehr zu nützen als eine „Ausgrenzung“. Sie gibt der Partei die Gelegenheit, sich – vollkommen plausibel – als die eigentliche Hüterin der Verfassung zu inszenieren. So formulierte der AfD-Fraktionsvorsitzende Bernd Gögel am 6. Juni: „Wir, die AfD-Fraktion, haben uns heute der Würde des Verfassungsgerichtshofs von Baden-Württemberg entsprechend verhalten. Auch im Abstimmungsverhalten hat die AfD-Fraktion Verantwortungsbewusstsein gezeigt, hat sich an die auch vorab geführten Gespräche gehalten. Wir finden es sehr bedauerlich, dass die Wahl zum Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg hier polemisch und politisiert wird und den Personen, die sich zur Wahl gestellt haben, in keiner Weise gerecht wird.“

Die dritte Strategie schließlich besteht in der vollständigen „Integration“ der AfD. Sie wird in die Erarbeitung eines gemeinsamen Vorschlags durch den hierfür vorgesehenen Parlamentsausschuss eingebunden, um anschließend eine gemeinsame Wahl mit breiter Mehrheit sicherzustellen. Paradigmatisch hierfür sind die im September 2017 erfolgten Wahlen des Präsidenten und der Vizepräsidentin des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt, die auf einstimmigen Vorschlag des Rechtsausschusses jeweils nahezu einstimmig im Plenum des Landtags erfolgte. Diese Vorgehensweise sichert die demokratische Repräsentativität der Richterbestellung, verhindert die Nominierung von Kandidaten, die nicht eindeutig auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, und beschränkt die Möglichkeiten der AfD, Verfassungsrichterwahlen zur Selbstdarstellung zu nutzen. Gleichwohl birgt diese Strategie die Gefahr einer schleichenden „Rechtsverschiebung“ der Verfassungsgerichte.

Angesichts der bisher in den Bundesländern gemachten Erfahrungen kristallisiert sich keine der drei Strategien als ideal heraus. Festhalten lässt sich jedoch, dass eine „bedingte Integration“ für die Bekämpfung des Rechtspopulismus ungeeignet ist, da sie weder die demokratische Repräsentativität der Richterbestellung, noch die Auswahl geeigneter Persönlichkeiten zu sichern vermag, der AfD aber die Instrumentalisierung von Verfassungsrichterwahlen ermöglicht. Die Strategie der „Ausgrenzung“ dagegen könnte angesichts möglicherweise weiter steigender Stimmanteile der Rechtspopulisten bald hinfällig werden. Noch ist zwar nirgendwo eine Richterwahl nur mit Zustimmung der AfD möglich. Aber schon bei den kommenden sächsischen Landtagswahlen könnte sich dies ändern. Sollte sich die AfD dauerhaft mit höheren Wahlergebnissen etablieren, wird sich die Bestellung AfD-naher Richter daher ohnehin auf Dauer nicht verhindern lassen – jedenfalls überall da, wo die Richterbestellung eine qualifizierte Mehrheit erfordert.

Auch auf Bundesebene könnte dies bald Folgen haben. Hier teilen sich CDU, CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen die Vergabe der 16 Richterstellen am Bundesverfassungsgericht traditionell nach einem Quasi-Proporz untereinander auf. Die Bestellung der acht vom Bundestag zu wählenden Richter erfolgt dabei seit einer Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahr 2015 nun auch durch das Parlamentsplenum – wie in allen Bundesländern mit Ausnahme von Hessen. Schon jetzt müssen sich die genannten fünf Parteien einigen, da nur CDU, CSU, SPD und FDP gemeinsam eine Zweidrittelmehrheit erreichen und Bündnis 90/Die Grünen im Bundesrat eine Vetoposition besitzen. Eine Stärkung der AfD bei der nächsten Bundestagswahl (die angesichts der aktuellen Regierungskrise ja durchaus schon vor 2021 kommen könnte), hätte daher zur Folge, dass die genannten Parteien entweder die bisher betriebene Ausgrenzung der Partei „Die Linke“ aufgeben oder aber die AfD integrieren müssten. Spätestens dann würde der Einfluss der AfD auf die Besetzung der höchsten Richterstellen in Bund und Ländern und die damit verbundenen Probleme für Demokratie und Rechtsstaat auch stärkere öffentliche Aufmerksamkeit finden.

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