28. Januar 2010

Maximilian Steinbeis

BAG: Ein schöner Fall von höchstrichterlicher Selbstkorrektur

Hier mal ein Ausflug in ein Rechtsgebiet, das uns sonst nicht so oft beschäftigt: Der heutige Beschluss aus dem Bundesarbeitsgericht zur Tarifeinheit ist für den Verfassungsblog deshalb bemerkenswert, weil wir es hier mit einem seltenen Fall verfassungsrechtlicher Selbstkorrektur eines obersten Bundesgerichtes zu tun haben.

Wir erinnern uns alle noch an die Lokführer-, Piloten- und Ärztestreiks der letzten Jahre. Die hatten gemeinsam, dass Gruppen höher qualifizierter Beschäftigter kollektiv mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen für sich durchzusetzen versuchten: Sie wollten eigene Tarifverträge für sich und nicht länger den Tarifen unterworfen sein, die von den Groß-Gewerkschaften in erster Linie für die Schaffner, Stewardessen und Krankenschwestern ausgehandelt wurden und die Interessen der ohnehin höher Bezahlten hintan stellte.

Dem stand der so genannte Grundsatz der Tarifeinheit im Weg: Der besagte, dass in einem Betrieb immer nur ein Tarifvertrag für alle gelten darf. Wenn mehrere Gewerkschaften mit dem Arbeitgeber einen Vertrag abgeschlossen haben, dann verdrängt der sachnähere und mächtigere Tarifvertrag den anderen. Das heißt, wenn ich Mitglied einer Gewerkschaft bin und die schließt nach allen Regeln der Kunst mit einem Verband, in dem mein Arbeitsgeber Mitglied ist, einen Tarifvertrag – dann kann ich diesen Tarifvertrag in der Pfeife rauchen, wenn die Kollegen aus der Soundso-Abteilung mit ihrer Gewerkschaft einen dickeren Tarifvertrag für sich klar gemacht haben.

Warum das so ist? Keine Ahnung. Ich habe schon im Studium die Arbeitsrechtler immer für ihre freihändige Gedankenführung bewundert. Es ist natürlich klar, dass diese Tarifeinheit den Gewerkschaften und auch den Arbeitgebern das Leben viel übersichtlicher macht. Aber wo steht das im Gesetz?

Das Bundesarbeitsgericht hat eine lange und ehrwürdige Tradition darin, sich das Recht, das es seinen Urteilen zugrundelegt, selber zusammenzustecken. Es gibt ja kein Arbeitsgesetzbuch.

Koalitionsfreiheit

Hier aber gibt es unglückseligerweise den Artikel 9 III Grundgesetz: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“

Das ist jetzt auch dem für Tarifrecht zuständigen 4. BAG-Senat aufgefallen:

Eine gesetzlich angeordnete Regelung für die Verdrängung dieser durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehenen Geltung besteht ebenso wenig wie eine zur Rechtsfortbildung berechtigende Lücke im Tarifvertragsgesetz angenommen werden kann. Die Verdrängung eines geltenden Tarifvertrages nach dem Grundsatz der Tarifeinheit in den Fällen einer durch Mitgliedschaft oder durch die Stellung als Tarifvertragspartei begründeten Tarifpluralität ist zudem mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren.

Deshalb will der 4. Senat den Grundsatz der Tarifeinheit beerdigen und fordert den 10. Senat auf, dieser Linie zu folgen. Wenn dieser folgt, dann ist die Tarifeinheit tot. Was dann passiert, ob dann die Herzkranzgefäßspezialistengewerkschaft eines Tages für höhere Zuschläge streikt, weil die Kardiologengewerkschaft ihr zu lasch erscheint, und ob das eine gute Sache wäre oder eine schlechte – das vermag ich alles nicht zu beurteilen. Gespannt bin ich in jedem Fall.

Aber ich staune auch aus einem anderen Grund: Ohne dass es eines Spruchs aus Karlsruhe bedurft hätte (wie der gegebenenfalls ausgefallen wäre, steht sowieso auf einem anderen Blatt), hat hier ein Bundesgerichts-Senat erkannt, dass sich das von ihm ausgelegte Recht zu weit über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausbewegt hat, und hat beschlossen, dies zu korrigieren.

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