Der Bundestag hat am 22. November 2012 in erster Lesung den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Beschneidungsfrage beraten, der für Rechtssicherheit in dieser emotional aufgeladenen Angelegenheit sorgen soll. Anlass war das Urteil des Kölner Landgerichts vom Mai 2012, das die medizinisch nicht indizierte Beschneidung bei Minderjährigen für unrechtmäßig erklärte. Die Debatte, ob eine religiös motivierte Praxis wie die Beschneidung innerhalb der grundrechtlichen Grammatik des freiheitlichen Rechtsstaats einen legitimen Platz hat, wird trotz der demnächst verabschiedeten Regelung sicherlich weitergehen. Hier soll der Gesetzentwurf einer kurzen ethischen Bewertung unterzogen werden:
1. Der wichtigste Aspekt – Religion ist kein Verfolgungstatbestand
Die Materie wird nicht im Strafrecht behandelt, sondern im bürgerlichen Recht, nämlich im § 1631 des BGB, in dem „Inhalt und Grenzen der Personensorge“ geregelt werden. Ein neu hinzugefügter Absatz (d) räumt ausdrücklich das Recht der Eltern ein, einen minderjährigen Sohn beschneiden zu lassen, allerdings mit der Forderung, die in einer grundrechtlichen Güterabwägung unverzichtbar ist, dass dieser Eingriff lege artis und mit einer „im Einzelfall angemessenen und wirkungsvollen Betäubung“ stattzufinden habe, so die beigefügten Erläuterungen. Außerdem müsse ein eventuell bereits erkennbarer Kinderwille einbezogen werden. Sozialethisch erscheint es von Bedeutung, dass für eine Frage religiöser Selbstbestimmung zunächst das bürgerliche Recht bemüht wird, und nicht mit dem Strafrecht direkt das schärfste Werkzeug des Rechtsstaats zum Einsatz kommt. Religion, so kann man daraus gut und gerne schlussfolgern, wird in den Augen des Gesetzgebers offenbar als eine legitime Dimension menschlicher Existenz angesehen und nicht als Verfolgungstatbestand. Damit ist ein gewichtiger Kontrapunkt gesetzt gegenüber dem Stimmungsbild, das in weiten Teilen der Öffentlichkeit angesichts der vermeintlich “lobbyierten” Geländegewinne der organisierten Religionsgemeinschaften in der Beschneidungsfrage transportiert wird.
2. Zirkumzision & Grundrechtsstaat – die Pflicht zur Güterabwägung
Eine sozialethische Bewertung wird die Regelung auch deswegen gut heißen, weil an ihr erkennbar ist, dass es sich beim Sachverhalt der Beschneidung nicht um eine Bagatelle, sondern um einen Eingriff in die körperliche Integrität handelt. Deswegen müssen in der Tat mehrere Güter gegenüber gestellt und sorgsam gegeneinander abgewogen werden. Die Rechtsprechung kennt für diesen hermeneutisch anspruchsvollen Prozess das Prinzip der Wechselwirkung: Es verlangt, dass im Urteil alle betroffenen Positionen – Elternwille, Religionsfreiheit, Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit – aufscheinen müssen und die (unvermeidbare) Einschränkung einer oder mehrerer dieser Positionen im Lichte des Sinngehalts des eingeschränkten Gutes vorgenommen werden muss. Das Kölner Urteil nun hat die Religionsfreiheit auf eine nicht sachgemäße Weise eingeschränkt, nämlich nicht unter Ansehung des Sinngehalts der religiösen Beschneidungspraxis. Die Richter hätten sehen müssen, dass es sich bei dieser Praxis nicht um ein peripheres, sondern um ein zentrales Merkmal der betreffenden Religionsausübung handelt – es regelt, zumindest im Judentum, Zugehörigkeit zur Religion und ist das Schema ihrer Tradierung. Erklärt man diese Praxis für nicht zulässig, wird der Rechtsanspruch der Religionsfreiheit nicht lediglich graduell eingeschränkt (was im Rechtsstaat bei Grundrechtskonflikten immer wieder vorkommt und von den religiösen Grundrechtsträgern hingenommen werden muss), sondern er fällt vollständig unter den Tisch. Der Gesetzestext nun macht es der Rechtsprechung einfacher, weil er diesen Abwägungsprozess quasi vorwegnimmt und bezüglich der Beschneidung für entschieden aussagt. Aber es bleibt dabei: Zirkumzision ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der, wie auch jeder ärztliche Eingriff, gerechtfertigt werden muss. Eine religiöse Intention darf in einem freiheitlichen Gemeinwesen jedoch nicht von vornherein als Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen sein.
3. Die Bundestagsentscheidung – richtige Absicht, falsch getaktet
Bedenklich stimmt an der Initiative der Bundesregierung aber, in welcher Geschwindigkeit die Regelung festgezurrt worden ist. Geschuldet ist dies der Verunsicherung der Religionsgemeinschaften, die für ihre religiösen Vollzüge Rechtssicherheit wünschen. Auch integrations- und staatspolitische Intentionen spielen eine gewichtige Rolle: Es solle, so Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger vor dem Bundestag, ein Zeichen gesetzt werden, dass jüdische und muslimische Religionsausübung in unserer Gesellschaft erwünscht seien. Der Sache nach ist das sicher richtig. Im Kontext eines Grundrechtekonflikts, in dem allen beteiligten Positionen prinzipiell ein inkommensurabel hohes Eigengewicht zukommt, wirkt die Begründung aber verdruckst und letztlich fehl am Platz. Besser wäre es, man würde die fehlerhaft vorgenommene Güterabwägung des Kölner Gerichts offen als eine solche benennen und hätte die gesetzliche Klarstellung als eine ausdeutende Hilfestellung für solche Abwägungsprozesse bezeichnet.
Wenn von Zeit zu Zeit eine gesellschaftliche Klärung oder Rückvergewisserung stattfindet, ob diese oder jene soziale Praxis dem grund- und menschenrechtlichen Fundament der Gesellschaft auch wirklich entspricht, so ist das mehr als legitim – es ist notwendig, weil Konflikte um die Reichweite von Grundrechtsansprüchen das Wesen der weltanschaulich pluralen Gesellschaft ausmachen. Diese Debatte hat bis heute noch kaum stattgefunden: Bisher wurden beinahe nur die Signalraketen der verschiedenen Lager abgeschossen, die unterschiedlichen Positionen knallten förmlich aufeinander.
Man kann aus guten Gründen zu dem Ergebnis gelangen, das der Gesetzentwurf vorschlägt. Keiner muss den „rechtspolitischen Notstand“ ausrufen, wie Reinhard Merkel dies getan hat. Aber es wäre ein Zeichen für die Reife einer Demokratie, in einer gemeinsamen Verständigung, die viele mitnimmt, zu diesem Ergebnis zu gelangen – anstatt im technokratischen Hau-Ruck-Verfahren. Das Gemeinwesen und seine politische Kultur haben offenbar noch Luft nach oben.
Dieser Artikel wurde erstmals auf der Seite http://daniel-bogner.eu publiziert.