In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Exekutive. In der Coronakrise ist aus der Stunde inzwischen schon mehr als ein Jahr geworden – und das Ende nicht absehbar. Die in der ersten Phase noch hohe Akzeptanz der Regierungsmaßnahmen beginnt zu bröckeln. So wie die Menschen selbst zeigen sich auch die Regierenden zunehmend pandemiemüde. In einer liberalen Demokratie, in der es auch in Normalzeiten kein „Durchregieren“ gibt, musste sich die Coronakrise zwangsläufig zum Stresstest auswachsen. Denn auch im Ausnahmezustand hat sich das Regierungshandeln im Rahmen der Verfassung zu bewegen und bleibt es an die grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung gebunden.
Wie gut hat das deutsche Regierungssystem den Stresstest bisher bestanden? Nimmt man die öffentlichen Kommentierungen als Maßstab, wird insbesondere die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) und damit der gesamte Föderalismus als Schwachstelle ausgemacht. Die föderalen Institutionen seien einerseits zu träge, um in der Krise rasch entscheiden und eingreifen zu können. Zum anderen stünden sie einheitlichen Lösungen im Wege, die für die Bewältigung der Pandemie notwendig und von der Bevölkerung gewünscht seien. Mit dem Hinweis, dass die Verfassung eine MPK gar nicht vorsehe, wird deren Legitimität sogar grundsätzlich angezweifelt.
Diese Kritik ist deshalb merkwürdig, weil der Sinn der Ministerpräsidentenkonferenzen ja gerade darin besteht, ein bestimmtes Maß an Einheitlichkeit herzustellen. So wie die Länder über den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung mitwirken, so stimmen sie sich dort, wo sie im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeiten – etwa im Bereich der Schulpolitik – autonom handeln können oder wo sie Zuständigkeiten mit dem Bund teilen, untereinander und mit dem Bund ab. Föderales Regieren heißt koordiniertes Regieren. Koordination ist notwendig, weil das, was der eine in seinen Bereich tut, immer Auswirkungen auf den anderen hat, womöglich auch schädliche. Ein Beispiel aus der aktuellen Situation sind die Geschäftsöffnungen, die – wenn man sie einseitig vornimmt – unerwünschte Grenzverkehre auslösen würden. Abstimmungsbedarf besteht hier nicht nur innerstaatlich, sondern auch im Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarländern und -regionen.
Unterhalb der MPK findet die Koordination in der Bundesrepublik in hunderten von parallel eingerichteten Bund-Länder- und Länder-Länder-Gremien statt, über die sich niemand aufregt, weil sie ohnehin niemand kennt. Auch die Ministerpräsidenten- und Landesministerkonferenzen laufen in Normalzeiten meistens im Windschatten der Öffentlichkeit ab und finden – ähnlich wie das, was im Bundesrat passiert – kaum Aufmerksamkeit. Darin liegt ein generelles Problem des deutschen Föderalismus, das auf dessen exekutivische Struktur verweist. Sowohl im Bundesrat als auch in den Koordinierungsgremien sind es die Vertreter der Regierungen und Verwaltungen, die miteinander kooperieren. Die Parlamente haben das Nachsehen.
Über den Bedeutungsverlust der Landtage wird schon seit langem geklagt. Er hat primär damit zu tun, dass die Länder über vergleichsweise wenig eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten verfügen. Ihre Hauptaufgabe liegt traditionell auf administrativem Gebiet – in der Durchführung der Bundesgesetze. Das Problem betrifft aber ebenso die Bundesebene. Hier kritisieren nicht nur die Oppositionsparteien, sondern neben Verfassungsjuristen auch Mitglieder der Regierungsfraktionen, dass die Bundesregierung viele wesentliche Dinge auf dem Verordnungswege beschlossen hat, statt den dafür vorgesehenen Weg der regulären Gesetzgebung zu beschreiten. Das gilt für die zum Teil weitreichenden Grundrechtseinschränkungen, die das Infektionsschutzgesetz ermöglicht, genauso wie für die Festlegung der Impfreihenfolge. Parlamentarische Debatten über die Maßnahmen, in denen die Opposition die Regierung stellen kann, finden erst statt, wenn die Entscheidungen bereits getroffen sind. Auch an der Vorbereitung der Entscheidungen, bei der der Konsultation wissenschaftlicher Experten eine zentrale Rolle zukommt, sind die Abgeordneten nicht beteiligt. Stattdessen verlagert sich die Öffentlichkeitsfunktion des Bundestages in die fast täglich ausgestrahlten Talkshow-Sendungen und andere Medienformate, in denen es dann häufig dieselben Wissenschaftler sind, die die Zuschauer an ihren Erkenntnissen teilhaben lassen.
Der Bundestag ist an dieser Entwicklung nicht unschuldig. Trotz zaghafter Reformansätze wie der Einführung der Kanzlerfragestunden bleibt er in seiner Außenwirkung und der Funktion eines Gegengewichts zur Regierung hinter seinen Möglichkeiten zurück. Das liegt auch daran, dass ein wesentlicher Teil seiner Tätigkeit in den Ausschüssen stattfindet, wo bis heute das Prinzip der Regel-Nichtöffentlichkeit gilt. Um die Mitregierungs- und Kontrollfunktion der Abgeordneten zu stärken, sollte das geändert werden. Darüber hinaus könnte man der Regierung strengere Unterrichtungspflichten auferlegen, wie sie heute schon bei EU-Angelegenheiten bestehen. Und in einer Notlagensituation wie der jetzigen müsste die Regierung ihre eigene Position dem Bundestag schon vor einer MPK darlegen, damit die Abgeordneten und besonders die Opposition die Möglichkeit behalten, sie zu kritisieren und ihre eigenen Alternativen aufzuzeigen.
Blickt man auf die bisherige Rolle der Opposition in der Krise, so kann von einer beherzten Wahrnehmung der Kritik- und Alternativfunktion nicht die Rede sein. Die AfD ist von dieser Feststellung auszunehmen. Sie kann sich ihre maßlosen Angriffe leisten, weil niemand sie als Regierungsalternative betrachtet. Bei den systemtragenden Parteien der Opposition – der FDP, der Linken und vor allem den Grünen – ist dagegen auffällig, dass sie in der ersten Phase der Pandemie so gut wie gar nicht und seit der zweiten Phase nur schwach Gegenposition bezogen haben. Ein wichtiger Grund dafür liegt sicher im Thema der Pandemiebekämpfung selbst, das sich der parteipolitischen Logik zum Teil entzieht. Gleichzeitig hat es aber auch viel mit den veränderten Regierungsverhältnissen im Bund und in den Ländern zu tun, die wiederum eine Folge des Parteiensystemwandels sind.
Auf der Bundesebene waren drei der vier seit 2005 gebildeten Regierungen Große Koalitionen aus CDU/CSU und SPD. Zwischen 2009 und 2013 kam das letzte Mal eine kleine „lagerinterne“ Koalition der Union mit der FDP zustande, die sich prompt als Desaster entpuppte und das Verhältnis der beiden Parteien zueinander nachhaltig beschädigte. Auf der Länderebene gibt es lagerinterne „bürgerliche“ Koalitionen heute nur noch in Bayern und Nordrhein-Westfalen und linke Zweier- oder Dreierbündnisse in den drei Stadtstaaten sowie in Thüringen (dort als Minderheitsregierung). In den übrigen zehn Ländern amtieren „lagerübergreifende“ Zweier- oder Dreierkoalitionen.
Diese Konstellation führt dazu, dass jedwede Bundesregierung – gleich welcher Couleur – heute nicht mehr damit rechnen kann, über eine eigene Mehrheit im Bundesrat zu verfügen. Sie muss sich deshalb mit Ländern arrangieren, die von einer oder mehreren Oppositionsparteien des Bundes mitregiert werden. Anfang 2021 verfügten die Grünen über elf solcher Regierungsbeteiligungen, die FDP und die Linke über je drei. Allein die Regierungsbeteiligungen der Grünen würden bequem ausreichen, um die Bundesregierung bei zustimmungspflichtigen Gesetzen auszubremsen, doch sind solche Blockaden – von Ausnahmen wie der Erklärung Algeriens, Tunesiens und Marokkos zu sicheren Herkunftsländern abgesehen – in den letzten Jahren praktisch nicht vorgekommen. Die Regierung konnte sich zumeist schon im Vorfeld mit den Grünen und in vielen Fällen auch mit der FDP und der Linken verständigen. Genau dadurch fällt es diesen Parteien im Bundestag aber immer schwerer, konsequente Gegenpositionen zu Regierungspolitik aufzubauen. Die Pandemie hat dieses Dilemma noch sichtbarer gemacht. Am deutlichsten zeigt es sich bei den Grünen, die durch die Perspektive einer schwarz-grünen Regierung nach der Bundestagswahl gegenüber der Union ohnehin Beißhemmungen haben.
Ein weiteres Problem der aktuellen Situation hat ebenfalls mit den Funktionsbedingungen der parlamentarischen Demokratie zu tun: das Führungsvakuum an der Regierungsspitze. Dass ein amtierender Bundeskanzler – in diesem Fall eine Bundeskanzlerin – erklärt, bei der nächsten Wahl nicht mehr antreten, gleichwohl aber bis dahin im Amt bleiben zu wollen, gab es in der Bundesrepublik noch nie. Dies bringt den künftigen Kanzlerkandidaten der Union in die Bredouille, birgt aber zugleich ein großes Problem für die Kanzlerin selbst, die als „lame duck“ über immer weniger Macht und Führungsautorität verfügt. Im Verhältnis zu den Ministerpräsidenten hat Angela Merkel das in einem fast schon resignierten Ton zuletzt offen eingestanden. Auch auf europäischer Ebene kann sie sich von der Mitverantwortung für das in die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft fallende Impfstoffdebakel nicht freisprechen. Nach 16 Jahren im Amt hätte Merkel gewiss einen besseren Abschied verdient gehabt. Und dass es für das Land in einer seiner bis dahin schwersten Krisen vielleicht besser gewesen wäre, eine dauerhaft kraftvoll handelnde Regierungschefin an der Spitze zu wissen, darf man zumindest annehmen.