
Das lässt Karlsruhe nicht mit sich machen. Vor eineinhalb Jahren hatte der Erste Senat den Gesetzgeber in Sachen Erbschaftsteuer zurück an sein Drawing Board geschickt, weil dessen Regeln zur Schonung von Firmenerben zur kreativen Steuergestaltung geradezu einluden und daher mit dem Gleichheitssatz nicht in Einklang zu bringen waren. Bis zum 30. Juni hatte er ihm Zeit gegeben, die Sache in Ordnung zu bringen. Die Frist ist verstrichen. Was jetzt?
Eigentlich, sollte man meinen, würde damit jetzt eintreten, was in der Logik des Normenkontrollverfahrens liegt: Die Regeln im Erbschaftsteuergesetz sind verfassungswidrig und damit, nachdem die Nachbesserungsfrist abgelaufen ist, nichtig, was sehr unschön ist, weil damit die Erbschaftsteuer nicht mehr nur auf ungerechte Weise, sondern überhaupt nicht mehr erhoben werden könnte – aber das hätte sich der säumige Gesetzgeber ja dann selbst zuzuschreiben (wobei die Last die Länder treffen würde, denen die Einnahmen aus der Steuer zustehen).
Das ist aber nicht so. In seinem Urteil hatte der Senat angeordnet, dass das Erbschaftsteuerrecht „bis zu einer Neuregelung“ fortgilt. Die Frist bis zum 30. Juni hatte somit nur deklaratorische Wirkung, wenn sie abläuft, passiert: nichts. Man darf annehmen, dass man sich dies im BMF, im Bundestag und im Bundesrat klar gemacht hat, bevor man sich entschlossen hat, die Frist verstreichen zu lassen.
Das muss man wissen, wenn man die Mitteilung liest, die das Bundesverfassungsgericht heute veröffentlicht hat und die auf den ersten Blick Rätsel aufgibt: Danach soll das Normenkontrollverfahren zur Erbschaftsteuer jetzt „erneut auf die Tagesordnung“. Nach der Sommerpause wolle der Senat über sein „weiteres Vorgehen im Normenkontrollverfahren um das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz“ entscheiden.
Wie kommt das denn? Ist das Normenkontrollverfahren mit dem Urteil vom 17. Dezember 2014 nicht abgeschlossen? Wie kommt der Senat dazu, nach gesprochenem Urteil das Verfahren einfach wieder „auf die Tagesordnung“ zu setzen? Gehört es nicht zu den ehernen Grundsätzen des Verfassungsprozessrechts, dass das Gericht nicht von sich aus, sondern nur auf Antrag tätig werden kann? Muss es nicht zumindest warten, bis erneut jemand klagt?
Nein, das muss es nicht. Jedenfalls findet das Gericht selbst seit vielen Jahrzehnten, dass es das nicht muss.
Anknüpfungspunkt ist § 35 BVerfGG:
Das Bundesverfassungsgericht kann in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln.
Das ist die Rechtsgrundlage, auf die sich das Gericht stützt, wenn es so genannte Regelungsanordnungen trifft, etwa als es 2011 im Streit um die Sicherungsverwahrung anordnete, das strittige Gesetz forthin nur noch unter detaillierten Maßgaben anzuwenden.
Erstaunlich ist allerdings, dass nach dem Wortlaut von § 35 („in seiner Entscheidung“) so etwas eigentlich nur in dem Urteil selber geht. Das BVerfG stört sich daran allerdings schon seit Jahrzehnten überhaupt nicht und ist der Meinung, dass ihm auch nachträgliche Anordnungen auf dieser Basis erlaubt sind.
Es sieht damit so aus, als beabsichtigte der Erste Senat auf dieser Basis, jetzt in einem nachträglichen Beschluss die Herstellung verfassungsgemäßer Zustände im Erbschaftsteuerrecht selber in die Hand zu nehmen.
Das wäre auch nicht das erste Mal. 2012 hat der Senat angeblich ein ähnliches Vorgehen schon einmal angekündigt. Damals ging es um die Gleichstellung der Homo-Ehe bei der Grunderwerbsteuer, die Karlsruhe ebenfalls zunächst vergeblich vom Gesetzgeber eingefordert hatte. Dass Karlsruhe wie angedroht die Sache selber regeln musste, stellte sich dann allerdings doch als unnötig heraus: Der Gesetzgeber beseitigte das Problem in letzter Minute doch noch selbst.
Wenn nun also, wie angedroht, im Herbst eine solche Vollstreckungsanordnung aus Karlsruhe kommt, dann hätte das Gericht mehrere heikle Fragen zu beantworten:
Zum einen setzt es sich damit in Widerspruch nicht nur zum Wortlaut des § 35, sondern zu seinem eigenen Urteil von 2014. Dort ist schließlich klar geregelt, was gelten soll: nämlich die bestehende Gesetzeslage solange, bis es zu einer Neuregelung kommt (RNr. 292). Wenn der Senat jetzt etwas anderes anordnet, dann wäre das ja wohl kaum eine Regelung zur „Art und Weise der Vollstreckung“ dieses Urteils, sondern eine Abänderung desselben, oder nicht? Und woher nimmt es dazu die Kompetenz?
Zum anderen müsste sich der Senat mit dieser Anordnung einigermaßen beeilen, weil im November die Amtszeit des Richters Reinhard Gaier endet. Wenn der Senat sein eigenes Urteil schon abändert, dann doch zumindest in der gleichen Besetzung, sonst wäre dies ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Das Problem ist allerdings wohl lösbar.
Das sind nun alles sicherlich eher akademische Überlegungen angesichts eines Gerichts, das wie jeder selbst- und machtbewusste politische Akteur gegenüber juristischen Bedenkenträgereien nicht viel Geduld aufbringt, wenn um die Grenzen der eigenen Bewegungsfreiheit geht. Was, das kann ich nicht? Watch me! Zumal auch politisch sich das Entsetzen der Öffentlichkeit stark in Grenzen halten dürfte.
Damit liegt jetzt der Ball erst mal wieder im Feld des Gesetzgebers. Er hat über die Sommermonate Zeit, die Karlsruher Selbstermächtigung noch abzuwenden. Es gibt viele außerordentlich starke Argumente dafür, dass er das unbedingt tun sollte.
Dank an Christoph Goos für wertvolle Hinweise.