Articles for category: Der Kopftuch-Beschluss: Zwei Senate

Von tragenden Gründen und abstrakter Gefahr

Christoph Möllers und Matthias Hong debattieren im Verfassungsblog über die Frage, ob der Erste Senat in dem jüngst durch Beschluss abgeschlossenen Kopftuch-Verfahren nach § 16 BVerfGG eine Plenarentscheidung hätte erwirken müssen. Ich möchte im Lichte ihrer Debatte noch einmal einen Blick auf die Argumentation des Zweiten Senats von 2003 werfen und schauen, welche Ausführungen zur Verbotsmöglichkeit religiös akzentuierter Kleidung für das Lehrpersonal bei abstrakten Gefahren für kollidierende Verfassungsgüter wirklich tragend oder nicht tragend sind.

Sicher, es geht um Verfassungsrecht: zu obiter dicta und „stare decisis“

War für den jüngsten Kopftuch-Fall eigentlich das Plenum zuständig? Mein Vorschlag, diese Frage zu verneinen, weil die neue Entscheidung nicht von tragenden Gründen der alten abweicht, überzeugt Christoph Möllers nicht: Ihm ist diese Antwort zu schlicht, um wahr zu sein. Warum soll aber nicht auch mal die schlichte Antwort letztlich die richtige sein?

Geht es nicht um Verfassungsrecht?

Mathias Hong gibt auf die Frage, ob der Erste Senat mit seiner jüngsten Entscheidung zum Kopftuch in Schulen das Plenum hätte anrufen sollen, eine bestechend schlichte Antwort – so schlicht, dass sie nicht überzeugen kann. Der Zweite Senat habe im Jahr 2003 den damals erhobenen Verfassungsbeschwerden stattgegeben, weil das Verbot der Schulbehörde keine gesetzliche Grundlage gehabt habe. Hierin allein, nicht in materiellen Erwägungen, habe der tragende Grund der Entscheidung gelegen. Von diesem Ausspruch sei der Erste Senat nicht abgewichen. Dass das nicht die ganze Geschichte ist, wird von ihm immerhin angedeutet. Denn das alte Urteile sandte immerhin „Signale“ an den ... continue reading

Two Tales of Two Courts: zum Kopftuch-Beschluss und dem „horror pleni“

Christoph Möllers hat auf diesem Blog jüngst die Frage aufgeworfen, ob der aktuelle Kopftuch-Beschluss des Ersten Senats des BVerfG dem des Zweiten Senats nicht nur widerspricht, sondern womöglich obendrein gegen die Pflicht verstößt, die strittigen Fragen vor dem Großen Senat klären zu lassen. Doch dies würde voraussetzen, dass der Erste Senat von tragenden Gründen des Beschlusses des Zweiten Senats abgewichen ist - und das ist nicht der Fall.

A Tale of two Courts

1. Wenige Jahre vor seinem Selbstmord auf der Flucht vor den Nazis schrieb Walter Benjamin einen berühmt gewordenen Satz: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barberei zu sein.“ Die Richtigkeit dieser Feststellung wird selten klarer als bei der Berufung auf „christliche und abendländische Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“, wie es in der unbeholfenen Formulierung des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers heißt. Wer sich auf solche beruft, meint auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das ist nicht nur ein eigentümlicher Anspruch, zumal für einen deutschen Gesetzgeber nach 1945, es übersieht auch, dass die ungeheuerlichsten Totalitarismen des ... continue reading

Kurswechsel in der Kopftuchfrage: nachvollziehbar, aber mit negativen Folgewirkungen

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. März 2015 zum Kopftuch der Lehrerin in öffentlichen Schulen hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist positiv, dass es den Einstieg in eine stärker laizistische Lesart des Grundgesetzes, den das Gericht in der Vorgängerentscheidung 2003 unternommen hatte, revidiert. Andererseits überrascht, wie unbefangen der Erste Senat nun über die Entscheidungsgründe des vor zwölf Jahren entscheidenden Zweiten Senats hinweggeht.