Articles for category: Österreich

Was die Verfassung über uns sagt

Durchweg positive Revuen waren es, die man die letzten Wochen und Monate durch alle österreichischen Formate hindurch aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des Bundes-Verfassungsgesetzes lesen durfte. Doch ist eine Verfassung ohnedies nur soviel wert, wie die gelebte Verfassungskultur. Wäre es daher nicht gewinnbringender, aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des B-VG über die gelebte Verfassungsrealität zu reflektieren? Denn es ist letztlich diese, die den Zustand einer Gesellschaft widerspiegelt.

Von der Ausnahme zum Alltäglichen

Das Sicherheitsrecht gilt als ebenso dynamisches wie instabiles Rechtsgebiet. Ein Grund hierfür ist, dass Sicherheitsgesetzgebung häufig anlassbezogen ist und auf Einzelereignisse reagiert. Die Spuren des Terroranschlags in Wien am 2.11.2020 waren kaum beseitigt, da legten sowohl die Österreichische Bundesregierung als auch die Europäische Kommission Entwürfe für neue Anti-Terror-Pakete vor. Beide Pakete sind weitere Bausteine einer Gesetzgebung, die auf konkrete Anlässe mit allgemeinen Gesetzen reagiert und auf diese Weise das Außergewöhnliche verallgemeinert, während das Normale denormalisiert wird.

Ein Schnellschuss ins rechte Seitenaus

Wenige Tage nach dem Anschlag von Wien am 2. November hat die österreichische Bundesregierung die Leitlinien eines Anti-Terror-Pakets präsentiert. Zwar hätte der Anschlag auch schon mit den derzeitigen juristischen Möglichkeiten zur Überwachung von Gefährder*innen verhindert werden können. Aber ungeachtet dessen sollen im Eilzugstempo (geplant noch im Dezember 2020) rechtliche Verschärfungen beschlossen werden, die massiv in Grund- und Freiheitsrechte eingreifen. Mit einer vernunftgeleiteten Kriminalpolitik, die auch in solchen Zeiten mit Bedacht reagiert und sich nicht vom Boulevard treiben lässt, haben diese Pläne nichts zu tun.

Österreich setzt das Asylrecht aus

Österreich hat aufgrund der grassierenden Coronapandemie de facto einen Einreisestopp für Asylwerber*innen erlassen. Diese (völker-)rechtswidrige Vorgehensweise scheint für nicht viel Empörung zu sorgen, da in Österreich bekanntlich das Recht der Politik folgt. Dass dadurch aber ein EU-Mitgliedstaat die Genfer Flüchtlingskonvention mit Füßen tritt und das Asylrecht aussetzt, sollte – vor allem auch aus juristischen Kreisen – zu einem lauteren Aufschrei führen. In der Folge wird daher gezeigt, inwiefern die österreichische Praxis sowohl völkerrechtswidrig ist als auch dem nationalen Recht widerspricht.

Is the Constitution Law for the Court Only?

According to Chancellor Kurz, this is not the time for juridical sophistry (juristische Spitzfindigkeiten). At the end of the day, it would be left to the Constitutional Court to decide on the legality of the COVID-19 measures which, when it will hand down a decision, will have been already revoked. These remarks betray a certain outlook on the authority of constitutional law. Putting the matter starkly, it suggests that the constitution is law for the Constitutional Court only.

Freiheitsrechte und Gewalt­schutz­ansprüche in Zeiten von Corona

Seit Beginn dieser Woche sind in Deutschland Kontaktbeschränkungen in Kraft. Österreich lebt schon seit dem 16.3.2020 mit Ausgangsbeschränkungen. Diese sogenannte Ausgangssperre ist in zweierlei Hinsicht kritisch zu sehen: Erstens suggeriert die Polizei in der Vollziehung Verbote, die keine Rechtsgrundlage haben. Damit sind Freiheitsrechte ungebührlich eingeschränkt. Zweitens fehlen die staatlichen Gewaltschutzpflichten in der Debatte. Denn mit Ausgangsbeschränkungen steigt die Gefahr, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Besonders verletzlich sind Frauen (und Kinder).

Zweck verfehlt

Im Dezember hob der österreichische Verfassungsgerichtshof wesentliche Teile des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes auf. Die Entscheidung gehört zu den rechtsstaatlichen Aufräumarbeiten nach dem Ende der Koalition aus ÖVP und der FPÖ, die mit dem zugrunde liegenden Grundsatzgesetz das Ziel verfolgt hatte, die Sozialhilfe bundesweit zu vereinheitlichen und dabei Zugewanderte im Sozialhilfesystem schlechter zu stellen. Nachdem sich auch die gestern vereidigte Regierung aus ÖVP und Grünen nicht auf eine Überarbeitung des Gesetzes geeinigt hat, wird die Regelungskompetenz weiterhin bei den Ländern verbleiben.

Nach dem Sicherheitspaket ist vor dem Sicherheitspaket

Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat am 11.12.2019 die Aufhebung unterschiedlicher Maßnahmen des sogenannten Sicherheitspakets der vergangenen ÖVP-FPÖ Regierung verkündet. Obwohl im Lichte der vorweihnachtlichen VfGH-Erkenntnisse fraglich ist, inwiefern die österreichische Verfassungsrechtslage überhaupt Raum für entsprechende Maßnahmen belässt, scheint die neue türkis-grüne Regierung nun eine Neuauflage der einkassierten Regelungen zu planen. Dies wirft die Frage auf, inwiefern die Koalitionspartner eine verfassungswidrige Regelung zumindest in Kauf nehmen und darauf hoffen, dass der Gerichtshof es am Ende schon wieder richten wird.

Liberalismus: Eine Grußkarte aus dem Roten Wien

Jan-Werner Müllers neues Buch plädiert für "einen anderen Liberalismus" – den Liberalismus der Furcht. Der verwandelt sich unter der Hand in einen Liberalismus der Inklusion. Das Programm ist menschenfreundlich und wegen des offenen Ausgangs des Zuhörens auch unverbindlich. Dagegen kann man doch keine Einwände haben. Oder doch?

Peter Handke wird Österreicher gewesen sein

Die Aussagekraft des Satzes „Peter Handke wird wieder Österreicher gewesen sein“ ist nicht nur durch das Futur II entstellt, sondern auch durch einen jugoslawischen Pass. Der österreichische Literaturnobelpreisträger ist also (vielleicht) gar kein Österreicher. Man könnte jetzt meinen, dass diese dramaturgische Volte geradezu bezeichnend ist für die ambivalente Rezeption der Entscheidung des Literaturnobelpreiskomitees, Peter Handke in einen erlauchten Kreis zu heben, dessen Berechtigung der Preisträger selbst immer wieder infrage gestellt hat. Die Posse um Handkes Pass, besehen aus einem ganz anderen Blickwinkel, lädt allerdings ein, einen etwas grundsätzlicheren Blick auf das österreichische Verhältnis zu Doppel- und Mehrfachstaatsangehörigkeiten zu werfen.