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Wer wacht über die Wächter?

Fast möchte man sagen: endlich! Regierung und Opposition wollen gemeinsam versuchen, das Bundesverfassungsgericht besser vor einer möglichen Einflussnahme durch Feinde der Demokratie zu schützen. Dafür wollen sie die Verfassung anpassen. Allerdings zeigt ein Blick in die Länder, dass entsprechende Vorhaben nicht umsonst zu haben sind. Sie können demokratische Kosten und bisweilen kontraproduktive Wirkungen zeitigen.

Die Qual der Wahlprüfung

Es lohnt sich, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Teilwahlwiederholung in Berlin genauer anzuschauen. Nicht nur, weil sie deutliche Absetzbewegungen zur Entscheidung des VerfGH Berlin aufweist, sondern auch weil sie im Hinblick auf Wahlfehler und Mandatsrelevanz einige spannende rechtsdogmatische Fragen aufwirft und in einigen Teilen widersprüchlich und nicht überzeugend ist. Für den Gesetzgeber ergeben sich aus den Urteilsgründen Ansätze für gesetzliche Normierungen von Wahlprüfungsregelungen.

Wahlrechtsprüfung in der zweiten Halbzeit

Knapp 27 Monate nach der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag und rund 21 Monate vor der nächsten Wahl hat das Bundesverfassungsgericht abschließend über Fehler bei der Durchführung der Wahl im Land Berlin entschieden. In einigen Monaten muss deshalb in – die Wahl wiederholt werden, wobei schon jetzt feststeht, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag dadurch nicht ändern werden. Das Urteil vertieft und präzisiert überwiegend alte Rechtsprechung. Einen dringenden Reformbedarf beim Wahlprüfungsverfahren lässt dagegen der Kontext der zeitliche Entscheidung erkennen.

Abgehakt

Das Bundesverfassungsgericht hat das im Herbst 2020 von der Großen Koalition modifizierte Wahlrecht durchgewunken (Az. 2 BvF 1/21). Die jüngste Wahlrechts-Entscheidung fällt inhaltlich genauso enttäuschend aus wie die Gesetzesänderung, über die das Gericht zu befinden hatte. Das war aus mehreren Gründen erwartbar. Dennoch lässt die Begründung viele Fragen offen.

Zwischen Komplexität und Klarheit

Am vergangenen Mittwoch verkündete der Zweite Senat des BVerfG sein Urteil zur „kleinen“ Wahlrechtsreform aus dem Jahre 2020. In der mündlichen Verhandlung im April wurde die Frage aufgeworfen, wie verständlich das Wahlrecht sein muss. Nun folgt die Antwort: Wenn es nach der Senatsmehrheit geht, braucht der Wähler wohl nur die Wahlhandlung, nicht aber die Ergebnisermittlung zu verstehen. Damit bleibt die „kleine Revolution“ im Wahlrecht zwar vorerst aus, doch das energisch widersprechende Sondervotum dürfte die wissenschaftliche Diskussion befeuern.

Vertrauen ist gut, verfassungsrechtliche Kodifizierung ist besser

In seinem Artikel „In schlechter Verfassung“ in der ZEIT vom 16. November 2023 äußert der ehemalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle seine Skepsis gegenüber Vorschlägen, die im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) geregelte Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Grundgesetz (GG) zu verankern. Für Voßkuhle erscheint die Situation in Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Ungarn, Polen, den USA oder Israel, in denen Verfassungsgerichte attackiert und entmachtet werden, „noch einigermaßen gefestigt“. Doch dieser Anschein könnte sich schneller als gedacht als trügerisch erweisen. Die fehlende verfassungstextliche Konkretisierung von Struktur, Arbeitsweise und Zusammensetzung des höchsten deutschen Gerichts bietet auch hierzulande ein Einfallstor für politische Angriffe und Kaperungsversuche.

Die Länderbremse

Die neuen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse dürften viele Landeshaushalte in Schwierigkeiten bringen. Eine Analyse verschiedener Landeshaushalte zeigt darüber hinaus, wie beliebig die demokratischen Parteien je nach Regierungs- oder Oppositionsrolle mit der Schuldenbremse umgehen. Besteht die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Fassung fort, führt das für die Länder zu Jahren verfassungsgerichtlicher Streitigkeiten und unsicherer Haushalte.

Eine verpasste Chance

Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts erweist der politischen Handlungsfähigkeit und der Generationengerechtigkeit einen Bärendienst. In enger Auslegung der Haushaltsverfassung schränkt es die Möglichkeitsräume langfristig ausgerichteter Politik ein, ohne einen Kompromissweg vorzuzeichnen. Die Richterinnen und Richter haben die Chance verpasst, die haushaltsverfassungsrechtliche Dogmatik in Anknüpfung an den Klimabeschluss – wohlgemerkt des Ersten Senats – fortzuentwickeln und Leitplanken für das Verhältnis von Klimaschutz und Haushaltsverfassung zu formulieren. Das Urteil lässt sowohl Fingerspitzengefühl als auch Weitsicht vermissen, die ein so sensibles Thema wie die Generationengerechtigkeit im Gesamtgefüge verfassungsrechtlicher Normen insbesondere in von Umbrüchen geprägten Krisenzeiten erfordert.

Die Repolitisierung des Politischen

Das Verfahren um den zweiten Nachtragshaushalt 2021 gab dem Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit, grundlegende Fragen des Finanzverfassungsrechts rund um die Schuldenbremse zu klären. Die Entscheidung, das Gesetz zu kassieren, war die juristisch einzig richtige ‒ und beraubt die deutsche Politik einer schützenden Selbsttäuschung.

Freispruch bleibt Freispruch

Die Entscheidung des 2. Senats des BVerfG ist mit Spannung erwartet worden, jetzt ist sie da: Ein rechtskräftig Freigesprochener darf auch dann nicht wieder verfolgt werden, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür ergeben, dass er wegen Mordes oder eines schweren Kriegsverbrechens verurteilt wird. Die 2021 in § 362 Nr. 5 StPO ins Gesetz geschriebene Möglichkeit, in solchen Fällen die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben, ist verfassungswidrig und nichtig.