Articles for category: BVerfG

Bedarfsorientierte Sanktionen

In einer überraschenden Entscheidung hat das BVerfG die Sanktionen im Asylbewerberleistungsgesetz nicht für verfassungswidrig befunden: Im Mai, auf den Tag genau vier Jahre nach der angegriffenen Entscheidung des Bundessozialgerichts, hat die 3. Kammer des 1. Senats die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Noch überraschender ist, dass der Nichtannahmebeschluss die in der Sanktionen-Entscheidung entwickelten Maßstäbe nicht aufgreift.

Drei sind eins und eins sind wir

In einer Entscheidung vom 27. April argumentiert der Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass die für ihn relevanten Grundrechtsebenen in Europa –Grundrechte-Charta der EU, EMRK und Grundgesetz – im Wesentlichen deckungsgleich seien und daher eine Prüfung unabhängig vom konkreten Maßstab zum selben Ergebnis führe. Wenn aber alle Grundrechtsebenen in Europa dem Grundgesetz entsprechen, kann das Bundesverfassungsgericht den Anspruch formulieren, dass seine Maßstabsbildung für den gesamten europäischen Grundrechtsschutz gelten soll.

Die ‚Bundesnotbremse‘ ist nicht zustande gekommen

Aller Orten war in den letzten Tagen von der mutmaßlichen materiellen Verfassungswidrigkeit des neuen § 28b IfSG, der „Bundesnotbremse“ zu lesen und zu hören. Angesichts der großen Aufmerksamkeit muss verwundern, dass die offenkundige formelle Verfassungswidrigkeit der Norm bislang nicht thematisiert wurde. Bei der „Bundesnotbremse“ handelt es sich um ein gleich in zweifacher Hinsicht zustimmungsbedürftiges Gesetz, dem die Zustimmung des Bundesrats fehlt und das daher nicht gemäß Art. 78 GG zustande gekommen ist.

Keine ’self-executing‘ Ausgangssperre

Mit der jüngsten Reform des Infektionsschutzgesetzes gilt in Landkreisen, sobald die „Notbremse“ greift, eine Ausgangsbeschränkung von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetags. Anders als bei den bisher erlassenen, gleichgerichteten Verordnungen auf Landesebene stellt sich die Frage, ob ein Gesetz eine solche Beschränkung unmittelbar anordnen kann. Denn das IfSG vollzieht den Eingriff selbst, als self-executing Maßnahmegesetz. Art. 2 II 3 und Art. 104 I GG erlauben allerdings eine Einschränkung des Grundrechts der Freiheit der Person nur auf Grund eines Gesetzes, nicht durch Gesetz.

Das Private ist politisch

Der Berliner Mietendeckel ist nichtig. Zuständig ist nicht das Land Berlin, sondern der Bund, heißt es aus Karlsruhe. So weit, so erwartbar. Trotzdem ist der erste Aufschrei innerhalb des progressiven Lagers groß. Tim Wihl spricht gar von einem formalistischen „Fehlurteil“, das im Kern mit einer „wiederbelebten, aber schon immer falschen public private distinction“ operiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Mit dem Mietendeckelurteil hat das Bundesverfassungsgericht die Tür zu einem sozialen und nachhaltigen Privatrecht weiter aufgestoßen.

Zur Nichtigkeit des Berliner Mietendeckels

Das Bundesverfassungsgericht hat zum Berliner Mietendeckel gesprochen, und zwar in Gestalt des Zweiten Senats, dessen Zuständigkeit wohl durch das Überwiegen der kompetenzrechtlichen Frage gegeben war. Berichterstatter war der frühere CDU-Minister Peter Huber; es handelte sich vorwiegend um eine abstrakte Normenkontrolle, die die Fraktionen der Union und FDP angestrengt hatten. Die Entscheidung ist überraschend klar und eindeutig ausgefallen (7:1 in der Begründung, einstimmig im Ergebnis). Darin liegt ein Problem. Abermals fällt ein tiefer Schatten auf die Judikatur des Zweiten Senats, der sich in immer deutlicherer Weise als politökonomisch uninformiert und naiv erweist, in juristischer Hinsicht als handwerklich schwach.

Wegsanktioniert

In diesem Jahr möchte das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde zu den Leistungskürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz entscheiden. Es ist zweifelhaft, ob die von dem Gesetzgeber zur Legitimierung der Sanktionen vorgetragenen Gründe, namentlich die Förderung der Mitwirkungspflicht im Asyl- und Aufenthaltsrecht und die Verhinderung des „rechtsmissbräuchlichen Leistungsbezugs“, den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Zudem offenbart eine aktuelle Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage, dass die Wirksamkeit der Leistungskürzungen bislang unbelegt ist.

Was die Polizei kann und was sie darf

Seit einigen Monaten ermittelt die Sonderkommission BAO-Janus („Besondere Aufbau Organisation Janus") der Polizei Nordrhein-Westfalen gegen 24 Polizeibeamt*innen aus Essen und Mülheim an der Ruhr wegen rechtsextremer Chats. Am 18. Februar 2021 ließ die BAO-Janus in einer Massendatenabfrage mehr als 12.700 Rufnummern prüfen, in die die Handydaten der 24 unter Verdacht stehenden Beamt*innen einflossen. Die Massenabfragen von Handydaten durch die BAO-Janus stellen aber Vorfeldermittlungen unterhalb der Schwelle des Verdachtes dar und sind daher rechtswidrig.

Es braucht nicht immer ein Gesetz

Am 02.03.2021 hat der Zweite Senat des BVerfG einen Antrag der Fraktion DIE LINKE im CETA-Organstreitverfahren als unzulässig verworfen. Die Linksfraktion hatte gegen die Unterlassung einer konstitutiven Zustimmung zur vorläufigen Anwendung von CETA durch ein förmliches Mandatsgesetz geklagt. Dass es eines solchen Mandatsgesetzes nicht braucht, damit das Parlament seine Integrationsverantwortung wahrnimmt, war spätestens seit dem Lissabon-Urteil klar, doch in seinem CETA-Urteil konkretisiert das BVerfG die Integrationsverantwortung nun abermals.

Über Richten und Schlichten

Am Freitag, 5. März 2021, gaben die drei zuständigen Bundesministerien in einer Pressemitteilung bekannt, dass sich die Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall auf Ausgleichzahlungen für den Atomausstieg geeinigt habe. Die Einigung ist insbesondere für das noch anhängige investitionsschutzrechtliche Verfahren Vattenfall gegen Bundesrepublik Deutschland vor einem internationalen Schiedsgericht von großer Bedeutung, da es nun aufgrund der Einigung außerhalb des Verfahrens kein Ergebnis liefern wird, diente es womöglich jahrelang nur als Drohkulisse. Aber egal ob das Verfahren schlussendlich eine Drohwirkung hatte oder ganz bedeutungslos war: Das investitionsschutzrechtliche Verfahren ist in jedem Fall abzulehnen.