Articles for category: zehn Jahre später

„…den Mensch dem Menschen ähnlich machen“: Über Kooperationen zwischen Recht und Literatur

1. Wenn Rechtstexte auf literarische Texte treffen, dann treffen Wahrheitsformen aufeinander. Es treffen unterschiedliche Weisen, Wahrheit zu produzieren, aufeinander. Zu den zahlreichen Unterschieden gehören, historisch bedingt, unterschiedliche Stile, die sich um die Objektivierung und ‚Subjektivierung‘ der Aussagen bilden. Das fängt bei den banalen „wir“ und „man“ rechtswissenschaftlicher Texte an, geht über allgemein gehaltene, enthistorisierende und systematisierende Definitionen bis zu einem Fussnotenapparat, der in manchen Rechtstexten beinahe jede Aussage als nachweisbare Aussage absichern soll. Die Rechtswissenschaft, zumal die deutsche, pflegt bei ihren Wahrheitsformen objektivierende Stile, die Literaturwissenschaft tut das nicht, nicht in dem Maße, sie lässt das Subjekt stärker in die ... continue reading

Fiktion versus Faktizität

Das mit der „Esra“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfene Kernproblem der Kollision von Kunstfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht wurzelt in einer komplexen Mehrdimensionalität. Kunst und künstlerische Literatur sind als eine von der Realität abgehobene Dimension zu begreifen, die man – um die berühmte Formulierung der früheren Bundesverfassungsrichterin Rupp-von Brünneck aufzugreifen – nicht mit der „Elle der Realität“ messen dürfe (Sondervotum Rupp-von Brünneck, BVerfGE 30, 173 Tz. 113). Die andere Dimension bildet die reale Lebenswirklichkeit mit tatsächlichen Personen und Geschehnissen, die im Übrigen zulässigerweise als Vorbild für fiktionale Figuren herangezogen werden können. Fiktion versus Faktizität – auf diese Formel lässt sich das Spannungsverhältnis bringen, ... continue reading

Nur wer Fiktion Fiktion sein lässt, kann Tatsachen Tatsachen sein lassen

Als Buchverleger habe ich die gerichtlichen Auseinandersetzungen in den verschiedenen Instanzen um den Verbotsantrag gegen Maxim Billers Roman „Esra“ vor allen Dingen deshalb in so unangenehmer Erinnerung, weil die Anwälte der Kläger von der ersten Sekunde an auf oft unerträgliche Weise den Kunstcharakter des Romans leugneten und dem Autor (und dem Verlag) unterstellten, mit dem Buch einen kaum verdeckten Anschlag auf die Würde realer Personen begangen zu haben. Die Debatte mit den mal mehr oder weniger, aber stets ignoranten Richtern der Landes- und Oberlandesgerichte drehte sich in immer demselben Kreis: der Autor, der Verlag und der Anwalt erläuterten umfänglich am ... continue reading

Literature as Human Dignity: The Constitutional Court’s Misguided Ban of the Novel Esra

Maxim Biller’s novel Esra ends with the line: “The cave was empty, but it was filled with light.”  It is an achingly hopeful conclusion to a challenging, mostly dark work. Biller also would have been aware that those lines make a fair claim for the promise of literature. Empty words—mere inky-scribblings on a page—have the power to illuminate and enlighten life, the life of the author every bit as much as the lives of his or her readers. Biller’s novel is profoundly conscious of its status as—and its participation in the project of—literature. But the lessons this smart and challenging ... continue reading

Zehn Jahre „Esra“-Entscheidung: Wie scharf ist das Damoklesschwert?

Zehn Jahre nach der Bestätigung des Veröffentlichungs- und Verbreitungsverbots von Maxim Billers Roman „Esra“ durch das Bundesverfassungsgericht soll hier der Versuch unternommen werden, eine Bilanz zu ziehen: Was sind die Auswirkungen des Urteils aus heutiger Sicht? Ist der befürchtete Schaden eingetreten oder nicht, und was sind die Gründe hierfür? Das von Kritikern des Urteils – vornehmlich Literaturwissenschaftlern oder zumindest literaturaffinen Juristen – heraufbeschworene Szenario, nach dem Autoren literarischer Werke nun nicht mehr frei ihre künstlerische Freiheit ausleben könnten, sondern sich aus Angst vor einem juristischen Lektorat und etwaigen Schadensersatzforderungen selbst mit einer Zensur belegen würden, ist jedenfalls ausgeblieben. Dies zeigen ... continue reading

Inhalt und Schranken der Kunstfreiheit

Der Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 2007 betreffend den Roman Esra von Maxim Biller ist die zur Zeit letzte grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Inhalt und Grenzen der verfassungsrechtlich verbürgten Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). Zum Teil wiederholt und bestätigt das Bundesverfassungsgericht darin schon früher getätigte Aussagen und aufgestellte Grundsätze, teilweise enthält der Beschluss aber auch wichtige Fortentwicklungen und Konkretisierungen jener tradierten Grundsätze. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Kunstfreiheit auf der einen Seite und dem grundrechtlichen Schutz des Persönlichkeitsrechts auf der anderen Seite. Zunächst wiederholt das Gericht seine bekannte Aussage, dass ... continue reading

Ist Breitbart News ein Kunstprojekt?

In gewisser Weise scheint die Esra-Entscheidung zehn Jahre nach ihrer Verkündung schon aus einer anderen Zeit zu stammen. Die Problemlage, der sich das Bundesverfassungsgericht hier zu stellen hatte, unterschied sich nicht grundsätzlich von derjenigen, die dem 30 Jahre zuvor getroffenem Mephisto-Urteil zugrunde lag: Ein klassischer Roman, in dem der Autor persönliche Erlebnisse verarbeitet, stößt auf Protest, weil Weggefährten des Schriftstellers sich durch sein Werk in einer Weise portraitiert fühlen, die ihre tatsächlichen oder vermeintlichen charakterlichen Schwächen sowie intime Details ihres Privatlebens in höchst unvorteilhafter Weise der Öffentlichkeit vorführt. Schon Thomas Manns Buddenbrooks entfachten zu ihrer Zeit ähnliche Konflikte, ohne dass ... continue reading

Drehen am Fiktionalisierungsventil

Das Esra-Urteil hat die literarische Praxis in unserem Land erheblich verändert. Was ein Roman „darf“ und was nicht, schätzen wir heute anders ein als vor diesem Urteil. Ich möchte hier nicht noch einmal die Historie der Esra-Prozesse nachzeichnen und auch nicht darüber räsonieren, ob die daraus hervorgegangenen Urteile, insbesondere jenes des Bundesverfassungsgerichts, begrüßenswert oder betrüblich erscheinen. Ich will lediglich ein paar Anmerkungen dazu machen, wie sich die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Leitsätze auf die schriftstellerische Praxis ausgewirkt haben und weiter auswirken. Die ersten drei dieser Leitsätze gaben und geben den verfassungsrechtlichen Status Quo wieder, der schon zuvor weitgehend unumstritten galt. Wenn ... continue reading