16. Januar 2015

Matthias Kottmann

Charlie und die Meinungsfabrik: Zum medialen Umgang mit den Anschlägen von Paris

Wenig lässt sich so verlässlich vorhersagen wie der Verlauf des politischen Diskurses. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die Toten von Paris (erneut) instrumentalisiert würden. Die Rede sei hier nicht von abendländischen Demonstranten in Dresden und anderswo, auch nicht von manch einem Sicherheitspolitiker, der seit Jahren bei jeder Gelegenheit dieselben Behauptungen wiederholt. Angesprochen seien stattdessen einige Zeitgenossen, die offenbar durch die weltweite Solidarisierung das (Vor-)Urteil „Lügenpresse“ revidiert und sich wieder im Aufwind sehen. Sie bedienen sich einer altbewährten Textgattung: der Kolumne. Diese erlaubt es ihnen, in mehr oder weniger gehobener Form dasselbe zu tun wie ihre tumben Kritiker auf Dresdner Straßen: eine von Fakten weitgehend unbeeinflusste Meinung in die Welt zu setzen.

So nutzt Julian Reichelt auf BILD Online zwei Tage nach den Morden die Gelegenheit für einen Rundumschlag in der post-9/11-Tradition. Er habe, so die euphemistische Umschreibung, in amerikanischen Sicherheitskreisen „recherchiert“. Und das Ergebnis seiner Recherche (oder vielmehr: die ungefilterte Meinung seiner Stichwortgeber) will Herr Reichelt dem Leser nicht vorenthalten: Edward Snowden ist schuld an den Attentaten! Gewiss nicht direkt, aber nach Snowdens Enthüllungen habe man „förmlich dabei zusehen“ können, wie bewährte Überwachungsmethoden der NSA konterkariert worden seien, welche ansonsten die Verhinderung der Anschläge „deutlich wahrscheinlicher“ gemacht hätten. Dass die Täter der französischen Polizei bestens bekannt waren, und sie ihren Plan wohl kaum auf Facebook ausgearbeitet haben dürften, wird mit keinem Wort erwähnt.

Doch mit bloßer Überwachung ist es natürlich nicht getan! Schließlich befinde sich der Westen im Krieg gegen den islamistischen Terrorismus: „Und im Krieg geht es darum, den Feind so gezielt wie möglich zu töten.“ An die Anschläge von Paris, so Reichelt, sei deshalb zu denken, „wenn wir das nächste Mal über Snowdens Enthüllungen oder ‚gezielte Tötungen‘ debattieren“. Anlass und Kontext der Äußerung lassen vermuten, dass Julian Reichelt den Einsatz von Kampfdrohnen über europäischen Städten befürwortet.

Sein Kollege Jan Fleischhauer von Spiegel Online besitzt immerhin das Taktgefühl, seine Wortmeldung erst nach einer Trauerfrist zu platzieren (vielleicht gestattet ihm auch nur sein Brotgeber ein etwas gemächlicheres Arbeitstempo): Zum Schutze der Freiheit vor den Terroristen gelte es „spätestens jetzt“, für die „Ausweitung der Telefonüberwachung“ einzutreten. Man sollte Jan Fleischhauer nicht entgegnen, dass es Mörder für gewöhnlich weniger auf unsere Freiheit, sondern in erster Linie auf unser Leben abgesehen haben – er würde glatt den kollektiven Suizid empfehlen, um die Pläne von Al Kaida und Co. (todsicher) zu durchkreuzen.

Zumindest nimmt Fleischhauer das Argument zur Kenntnis, dass die in Frankreich bestehende Vorratsdatenspeicherung die Anschläge nicht verhindert habe – freilich nur, um es sogleich als „nahe am Dummenfang“ abzutun. Die Vorratsdatenspeicherung sei ja, so die bemerkenswerte Erkenntnis, „gerade kein Mittel zur Prävention“, es gehe dabei „vor allem darum, nach einem Terrorakt die Fahndung zu erleichtern.“ Inwiefern die Aussicht auf schnellere Fahndungserfolge die künftigen Opfer eines Anschlags zu trösten vermag? Weshalb die im offiziellen Diskurs als Instrument zur (präventiven) Bekämpfung des Terrorismus propagierte Vorratsdatenspeicherung plötzlich zum bloßen Mittel der Strafverfolgung uminterpretiert werden soll? Wie man sich überhaupt ihre Wiedereinführung vorzustellen hat, wo sie doch durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof (in seltener Eintracht) schwer bis unmöglich gemacht wurde? Fleischhauer bleibt die Antworten schuldig.

Aus beiden Kommentaren spricht vor allem eines: Angst. Während sie bei Reichelt uneingestanden (wenngleich nicht unbemerkt) bleibt, zählt sich Fleischhauer ganz offen zu den „weniger Mutigen“ in einer „postheroischen Gesellschaft“. Angst liefert aber nicht nur schlechte politische Handlungsanleitungen. Sie ist auch Existenzbedingung und Ziel von Terroristen und (manchen) Kolumnisten gleichermaßen. Vor allem jedoch, das zeigen die Ereignisse nach den Attentaten, lässt sie sich überwinden. Selbstmord aus Angst vor dem Tode kann also nicht die Lehre aus Paris 2015 sein.

PS: Die Kommentare von Reinhard Müller auf FAZ Online konnten ob ihrer Zahl und der begrenzten Zeit des Verfassers (unverdientermaßen) keine nähere Würdigung finden.

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