8. April 2020

Carsten Bäcker

Corona in Karlsruhe II

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat kürzlich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die (verfahrensgegenständlich: bayerischen) Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Epidemie einstimmig abgelehnt. Der Antrag sei zulässig, letztlich aber unbegründet. Angesichts der Repräsentativität dieses Antrags für die bundesweit weitgehend gleichen Maßnahmen lässt sich annehmen, dass man in Karlsruhe auch zukünftige Anträge gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie im Eilrechtsschutz nicht aufheben wird. Ist damit gesagt, dass all diese ungeheuer grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß betrachtet würden?

Nein. Die Entscheidung in der Hauptsache kann naturgemäß anders ausfallen als die im Eilrechtsschutz. Erst in gebührender Zeit werden wir wissen, wie sich das Gericht endgültig zu diesen in der Geschichte unserer Republik einzigartigen Eingriffen stellen wird (eine Prognose findet sich hier). Gesagt ist mit dieser Entscheidung aber, dass die Maßnahmen nun wohl erst lange nach ihrer bereits am Horizont stehenden Aufhebung bzw. Lockerung einer vollständigen verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen werden – bis dahin bleiben sie in Kraft.

Doppelhypothetische Folgenabwägung

Damit lohnt sich ein näherer Blick auf diese zwar prozessrechtlich bloß vorläufige, rechtstatsächlich aber wohl endgültige Entscheidung (eines Teils) des Ersten Senats ganz besonders. In der (prozessual angemessen) kurzen Begründung findet sich der Hinweis darauf, dass gegenwärtig vor den (bayerischen) Fachgerichten angesichts bereits ergangener Entscheidungen kein Rechtsschutz gegen die angegriffenen Maßnahmen erreichbar ist (ein entsprechendes Rechtsschutzersuchen sei derzeit „offensichtlich sinn- und aussichtslos“). Deswegen sei ein Verweis des Antragstellers auf den fachgerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz unzumutbar. Richtig oder zumindest vertretbar ist es auch, wenn das Gericht im Rahmen der von ihm im Verfahren nach § 32 BVerfGG vorzunehmenden Doppelhypothese der Folgenabwägung zu dem Ergebnis kommt, dass eine Aufhebung der bestehenden Maßnahmen zum gegenwärtigen Zeitpunkt (grundrechtlich) so schwerwiegende Folgen haben dürfte, dass sie einstweilen bestehen bleiben müssen; denn diese Folgen des Aufhebens der Maßnahmen sind für den Fall, dass sie sich später als verfassungsgemäß erweisen würden, mit den (grundrechtlichen) Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn die Maßnahmen jetzt aufgehoben würden, obschon sie sich später als verfassungsgemäß erweisen könnten. Dazu weist das Gericht darauf hin, dass die Aufhebung geltender Regelungen im Eilrechtsschutz Ausnahmecharakter habe, weswegen die Gründe für die Aufhebung dieser Regelungen (ungeachtet der Möglichkeit einer späteren Feststellung ihrer Verfassungsmäßigkeit) im Angesicht der gegen sie sprechenden Gründe (ungeachtet der Möglichkeit einer späteren Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit) besonders dringlich sein müssten. Es ist erwartet worden, dass das Gericht hier so entscheiden wird, wie es entschieden hat; und viele werden das auch so für richtig halten. 

Nichts zum Legalitätsgrundsatz

Und doch ist über eines zu stolpern: Das Gericht weist im Sinne seiner bisherigen Rechtsprechung darauf hin, dass eine einstweilige Anordnung schon dann unbegründet sei bzw. nicht zu ergehen habe, wenn die Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre – was hier, so die Kammer, nicht der Fall sei; vielmehr bedürfe die Verfassungsbeschwerde „eingehenderer Prüfung“. In der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeichnet sich allerdings auch der Grundsatz ab, dass – spiegelbildlich – eine einstweilige Anordnung schon dann begründet ist bzw. zu ergehen habe, wenn der Erfolg der Hauptsache offensichtlich wäre. Dies dürfte freilich in vergleichsweise deutlich weniger Fällen zutreffen, weswegen sich eine ständige Rechtsprechung nur entsprechend langsamer herausbilden kann; eine derartige Spruchpraxis wäre aber auch unabhängig von Präjudizien aus dem Gedanken effektiven Rechtsschutzes iSv Art. 19 IV GG verfassungs- wie prozessrechtlich sehr plausibel. Diese Alternative spart die Kammer aber aus – obschon sie hier durchaus vorliegen könnte. Ein offensichtlicher Erfolg der Hauptsache ergibt sich allerdings wohl nicht aus einer evidenten materiellen Verfassungswidrigkeit (die einige sehen, Argumente etwa bei Oliver Lepsius), sondern aus der hier kaum zu bestreitenden formellen Verfassungswidrigkeit: Nach wie vor fehlt es an hinreichend bestimmten Parlamentsgesetzen, die derart weitreichende Grundrechtsbeeinträchtigungen durch Exekutivgesetze vorsehen (zur entgegenstehenden Auffassung einer extensiven Auslegung bestehender Generalklauseln noch zurückhaltend etwa Christoph Möllers: „einigermaßen kurios“). Dieser Legalitätsgrundsatz ist keine formalistische Petitesse, die man wegen drängenderer Probleme einfach beiseite schieben kann; es handelt sich um ein, vielleicht das prägende Fundament unserer rechtsstaatlichen Ordnung.

Schweigen ist Gold?

Es dürfte deswegen letztlich kein Zufall sein, dass das Bundesverfassungsgericht auf dieses Problem nicht eingegangen ist. Vielmehr wird es gerade darin angesichts der schon mit der Erwägung einer formellen Verfassungswidrigkeit verwobenen Diskussion um einen Ausnahme- oder Notstandszustand etwas gesehen haben, was der beschworenen eingehenderen verfassungsrechtlichen Prüfung bedarf. Hinzu kommt der pragmatische Gedanke, nach der Überwindung der Pandemie (auch) aufgrund der Maßnahmen ließe sich wesentlich leichter sagen, dass die Maßnahmen zwar effektiv und jedenfalls ex ante geboten gewesen sein mögen, gleichwohl aber formell verfassungswidrig waren.

Man kann nur vermuten, dass das Gericht derartig weitgehende kollektive Grundrechtsbeeinträchtigungen jenseits parlamentarischer Gesetze, wie wir sie derzeit erleben, unter anderen Umständen als den gegebenen sehr deutlich als evident verfassungswidrig zurückgewiesen und auch eine entsprechende einstweilige Anordnung erlassen hätte. Freilich wäre dann auch die materielle verfassungsrechtliche Lage jenseits der bestehenden Krise eine ganz andere, mithin die Unverhältnismäßigkeit wenig zweifelhaft; und auf Sicht hätte es derartige Maßnahmen in unserem gefestigten Rechtsstaat jenseits einer derartigen Krise wohl auch nie gegeben. All das ändert aber nichts daran, dass die Kammer es hier versäumt oder vermieden hat, auf das Legalitätsproblem einzugehen. Es bleibt eine wenig gewagte Prognose: In der Entscheidung zur Hauptsache wird sich das Bundesverfassungsgericht dieser Frage eingehend widmen. Das Ergebnis ist mit Spannung zu erwarten.

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