5. Dezember 2014

Christopher Unseld

Darf es ein bisschen mehr sein? Gleichheit und Verfassungsidentität vor dem EuGH

Mit dem OMT-Beschluss des BVerfG hat die Frage nach dem Schutz der nationalen Verfassungsidentität in der EU (Art. 4 Abs. 2 EUV) an Brisanz gewonnen. Grund dafür ist auch, dass der EuGH das Potential dieser Norm bisher nicht ansatzweise ausgeschöpft hat.

Monica Claes, Professorin für Europarecht in Maastricht, hat im Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“ an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Vortrag zu diesem Thema gehalten. Ihre ansprechende Präsentation nationaler und europäischer Entscheidungen adressierte wichtige und noch ungeklärte Fragen. Um nur einige zu nennen: Wer ist letztlich verantwortlich für die Einhaltung des in Art. 4 Abs. 2 EUV festgeschriebenen Prinzips? Die EU oder die Mitgliedstaaten selbst? Und institutionell? Der EU-Gesetzgeber, der EuGH, die nationalen Gerichte, nationale Regierungen oder sonst wer?

Im Fokus des Vortrags stand dann auch der jüngste Beschluss des BVerfG in der Sache OMT. Die Richter hatten dem EuGH zwar einerseits die Frage der Vereinbarkeit der OMT-Ankündigung vorgelegt, aber andererseits mit der deutschen Verfassungsidentität (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG) gedroht. Vorlegen wollten sie die Frage im Hinblick auf Art. 4 Abs. 2 EUV nicht. Erstaunlich ist das nicht. Man muss schon ein aufgeklärt distanziertes Verständnis von Verfassungsidentität haben, um als nationales Verfassungsgericht einem supranationalem Spruchkörper die Frage vorzulegen, ob denn nun die eigene Identität verletzt ist. Dabei wird zwar immer wieder von einem Kooperationsverhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH geredet, und auch der Vortrag von Professor Claes war mit „We need to talk“ überschrieben. Richtig ist aber auch, dass man Freunden keine Frage stellt, deren Antwort man nicht hören will und noch weniger akzeptieren wird.

Der Vortrag von Frau Claes hat dargelegt, dass das BVerfG – anders als seine Zitate anderer Höchstgerichte suggerieren – mit seinem nationalem Verständnis von Verfassungsidentität ziemlich alleine dasteht. In der Bibliothek des Walter-Hallstein-Instituts war es auch nicht nötig, inhaltliche Kritik am Selbstverständnis der Bundesverfassungsrichter zu erklären. Wer den OMT-Beschluss als Anmaßung der Richter interpretiert, die ihre Rolle als Wirtschaftsweise und Retter der europäischen Demokratie missverstehen, rennt hier offene Türen ein. Die Kritik am Beschluss ist bereits Legion (vgl. nur hier und hier). Heraus sticht die Frage, warum das BVerfG einen nicht abwägbaren Kern der Haushaltshoheit zum Kern demokratischer Selbstbestimmung und damit zur Identitätsfrage macht, wenn sie doch sonst kaum einer Abwägung im Wege stehen. Wie im gleichen Kolleg bereits Henrik Enderlein erklärt hat, scheint es aus ökonomischer Sicht unverantwortlich, hier die Kosten eines möglichen Scheiterns des Euros zu ignorieren. Im Rahmen einer vollumfänglichen Abwägung müsse man zu dem Ergebnis kommen, dass die Sorgen des deutschen Finanzhaushaltes einem Zusammenbruch des europäischen Währungsraums unterliegen. Natürlich gibt es auch Ökonomen, die die Prämissen dieser Abwägung in Frage stellen. Aber soweit zu gehen, die ökonomische Expertise der europäischen Politik grundlegend in Frage zu stellen, ging selbst der OMT-Beschluss nicht.

Die Pointe von Monica Claes Vortrag war, die Karlsruher Vorstellung einer Verfassungsidentität dem europäischen Konzept einer Verfassungsidentität gegenüber zu stellen. Dies stellte sich als schwierig heraus, da der EuGH – wie der Vortrag gut veranschaulichte – die Verfassungsidentität aus Art. 4 Abs. 2 EUV bisher überwiegend ignoriert hat. Einige Generalanwälte sind hier bereits mit Schlussanträgen auf taube Ohren gestoßen. Umso bezeichnender ist der Vorzeigefall zur Verfassungsidentität:

In Sayn-Wittgenstein hat der EuGH das Verbot von Adelstiteln als Ausdruck österreichischer Verfassungsidentität verstanden. Wäre es nicht denkbar, diesen Fall zum Ausgangspunkt einer Rechtsprechung zur Verfassungsidentität zu erklären, die im Dialog mit den nationalen Gerichten fortzubilden ist? Hätte die OMT-Vorlage dies nicht versuchen können? Wo liegt der Unterschied von Sayn-Wittgenstein zum Verständnis von Verfassungsidentität im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG?

Für diese von Professor Claes aufgeworfene Fragen, will ich den Versuch einer Antwort wagen: Ich meine, es lohnt sich, die Sayn-Wittgenstein zugrunde liegende Rationalität zu hinterfragen. In dem Urteil stellt der EuGH kein idiosynkratisches Verfassungselement Österreichs unter den Schutz der Verfassungsidentität. Der EuGH hat dies selbst so gesehen:

Die Unionsrechtsordnung zielt unbestreitbar darauf ab, den Gleichheitsgrundsatz als allgemeinen Rechtsgrundsatz zu wahren. Dieser Grundsatz ist auch in Art. 20 der Charta der Grundrechte niedergelegt. Es besteht daher kein Zweifel, dass das Ziel, den Gleichheitsgrundsatz zu wahren, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. (Rz. 89)

Der Gerichtshof sah in der österreichischen Regelung einen Unterfall des Gleichheitsgrundsatzes, die Verfassungsidentität war nur ein Zusatzargument:

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, zu der auch die republikanische Staatsform gehört. (Rz. 92)

Was folgt daraus? Ist es nicht normal, dass die Verfassungsidentität eines Mitgliedsstaates auch Anknüpfungspunkte im EU-Recht findet? Ja, aber ist es nicht auch bezeichnend, dass der Vorzeigefall zur Verfassungsidentität auf die Gleichheit abstellt? Man muss Alexander Someks Argumentation nicht vollends folgen, um ihm zuzustimmen, dass die Gleichheits- und Antidiskriminierungsrechtsprechung des EuGH von ökonomischer Logik durchdrungen ist. Nicht zuletzt in der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten, steht die Gleichheit der Unionsbürger regelmäßig im Einklang mit der ökonomischen Rationalität der Freizügigkeit von Gütern und Personen und im Konflikt mit den partikularen Sozialstandards, kulturellen Bräuchen und Gewohnheiten.

Gleichheit, wie sie der EuGH versteht, ist Gegenspieler lokaler oder nationaler Identität. Gleichheit hat dann kein Verständnis für künstliche Grenzen kultureller oder sonstiger Art. Sayn-Wittgenstein ist die Ausnahme, da hier historische Eigenheit der Österreicher und Gleichheit parallel laufen. Der Fall ist hervorragend geeignet dies zu verdecken, da die Klägerin ihren Titel keiner gewachsenen, familiären Verbindung zu einem Adelsgeschlecht verdankte, sondern sich diesen aus vorrangig ökonomischer Motivation erkauft hatte. Plötzlich schien der Adel dem freien Markt zuzugehören.

Wenn es stimmt, dass sich das BVerfG mit dem OMT-Beschluss der ökonomischen Abwägung widersetzte und damit demokratische Selbstbestimmung stärken wollte, dann war Sayn-Wittgenstein jedenfalls kein gutes Gegenargument (auch wenn es an solchen Argumenten nicht mangelte). Die Kritiker des BVerfG haben sicher damit recht, dass das OMT-Verfahren nicht zu einer deutschen Identitätsfrage gemacht werden sollte. Wenn aber auch in Zukunft nationale Gerichte dem EuGH die Besonderheiten ihres Landes nicht anvertrauen wollen, dann ist die Logik von Sayn-Wittgenstein nicht zur Beschwichtigung geeignet. Der EuGH hat mit diesem Urteil keinen besonderen Respekt vor nationalen Eigenheiten bewiesen.

Verfassungsidentität darf hoffentlich ein bisschen mehr sein.

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