9. Oktober 2012

Andreas Gotzmann

Das Kölner Beschneidungsurteil und das Judentum, Teil 1: Unbeschnittene Juden?

Seit Monaten ergießt sich auf allen Kanälen eine Flut von Stellungnahmen, Berichten und Aufrufen höchst unterschiedlicher Qualität zum Thema ‚religiöse Beschneidung‘. Erstaunlicherweise – und ich beschränke mich als Fachwissenschaftler hier auf die jüdische Tradition – wird die keineswegs neue, sondern seit gut 200 Jahren immer wiederkehrende Debatte von jüdischer Seite derzeit so geführt, dass der Eindruck entsteht es handle sich beim Judentum um eine fundamentalistische Religion.

Zweifellos besteht gerade hinsichtlich der Beschneidung und ihrer Ausgestaltung zwischen den sonst stark differierenden jüdischen religiösen Denominationen – der beiden großen Reformgruppierungen des liberalen und konservativen Judentums, des kleinen Anteils der Orthodoxie von maximal 10 % (außerhalb des Staates Israel) sowie einiger weiterer, insgesamt etwa gleichgroßer Sondergruppen – ein Schulterschluss. Dies erklärt sich nicht nur dadurch, dass man eine grundlegende gemeinsame Basis erhalten möchte: Auch bei säkularen und zu erheblichen Teilen sogar anti-religiösen Juden ist die Beschneidung immer noch eine Selbstverständlichkeit, da es als Zeichen einer säkularen Volkszugehörigkeit angesehen wird.

Dennoch bestehen auch jenseits privater Bewertungen wirkmächtige und sogar rechtliche Definitionen, die auch unbeschnittene männliche Personen als Juden anerkennen, so beispielsweise das israelische Staatsbürgerrecht. Und selbst wenn man nur die orthodoxe Sichtweise in den Blick nimmt – innerhalb der Reform wurden bereits durchaus weitere Änderungen insbesondere im Hinblick die medizinische Praxis etabliert –, so ist und bleibt der unbeschnittene Sohn einer jüdischen Mutter anders als vielfach gesagt wurde ganz fraglos ein Jude, denn die Beschneidung entscheidet lediglich über die Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft. Sein Judesein bleibt davon unberührt, gleich aus welchen Gründen er nicht beschnitten wurde.

Ganz im Gegensatz zu dem stereotypen Reduzieren der Debatte auf das biblische Gebot der Beschneidung am achten Tag existiert auch in der Orthodoxie bis in ultra-orthodoxe Kreise hinein eine breite Diskussion, die ein ganz anderes Bild vermittelt. So  stellt sich die Beschneidungspflicht auf den geltenden religionsrechtlichen Grundlagen auch der Orthodoxie, die für die überwiegende Mehrzahl der deutschen Gemeinden den maßgeblichen Orientierungspunkt darstellt, durchaus anders dar: Sogar nach der konservativsten Auslegung des Religionsrechts gilt die Pflicht, sich beschneiden zu lassen, für einen männlichen Juden erst mit dem Erreichen der religiösen Mündigkeit, also des 13. Lebensjahrs. Davor obliegt diese Verpflichtung allein dem Vater und bei dessen Fehlen oder Weigerung der jüdischen Gemeinde.

An diesem Punkt treffen sich die religionsgesetzliche und die staatsrechtliche Bewertung tatsächlich: Auch aus religiöser Perspektive bedeutet das Zugeständnis, unmündige Jungen beschneiden zu können, ausschließlich das Recht, eine Körperverletzung an anderen vorzunehmen, woraus sich ein bleibender Rechtskonflikt mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ergibt. Erst nach dem 13. Lebensjahr stellt sich die Frage, ob der Staat Personen, die aus seiner Perspektive weiterhin unmündig sind, eine solche Entscheidung zugestehen möchte. Ob hier aus religiöser Perspektive wirklich wie vielfach angedeutet wurde den Forderungen des staatlichen Rechts nicht nachgegeben werden kann, ist unklar: In zahllosen anderen Fällen verdrängt das staatliche Recht das religiöse. Jenseits der Ultra-Orthodoxie ist kaum zu erwarten, dass man hinsichtlich der elterlichen Beschneidungspflicht Minderjähriger das gefestigte jüdische Verständnis des Verhältnisses von Staat und Religion insgesamt in Frage stellen würde, zumal wenn es lediglich um eine Verschiebung des Termins ginge. Etablierte religionsrechtliche Regelungen hierzu gibt es bislang nicht.

Insofern bleibt die Warnung, dass bei Verbot der Beschneidung jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich sei, unverständlich: Zum einen war sie dies bereits seit Gründung der Bundesrepublik, ohne dass man Einschränkungen hinnehmen musste. Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass insbesondere die fast durchgehend a-religiöse jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine derart fundamentalistische Position einnehmen würde.

Zumal – und hieran scheitert spätestens auch ein weiteres Argument – die soziale Integration nicht-beschnittener Juden gerade in den deutschen Nachkriegsgemeinden ausgesprochen liberal gehandhabt wird. Dies erklärt sich nicht allein aus dem sehr hohen Anteil religiös gemischter Ehen, welchen nicht nur nicht-jüdische Kinder, sondern auch nicht-beschnittene jüdische Jungen entstammen.

Mit der Immigration von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion (inzwischen etwa 90 % allein der Gemeindemitglieder, wobei ein überwiegender Teil der männlichen Zuwanderer nicht beschnitten war bzw. ist) wurde diese kaum beschränkte Offenheit sogar zur offiziellen Politik der Gemeinden: So werden diese Kinder in das soziale Leben, den Religionsunterrichten und teilweise sogar in das religiöse Ritual einbezogen, da man hofft, dass eine Stärkung des jüdischen Erbes zu einem vollständigen Bekenntnis zum Judentum, auch zur Beschneidung, führe.

Ein unbeschnittener Erwachsener hat zudem selbst nach orthodoxem Religionsrecht nur den Ausschluss von einigen Ritualen zu befürchten. Am empfindlichsten ist, dass ihm die religiöse Eheschließung untersagt bleibt: Er müsste sich jedoch nur der Beschneidung unterziehen und wäre – anders als etwa ein Konvertit – bereits ein vollgültiges Mitglied der Gemeinschaft.

So sehr das Geschilderte natürlich nicht der eigentlichen religiösen Vorstellung entspricht, stellt sich für die jüdische Gemeinschaft die schon vor gut 150 Jahren diskutierte Frage, weshalb man gegenüber Beschneidungsverweigerern andere Maßstäbe anlegen sollte als bei anderen Häretikern, so all jenen, die nicht koscher essen, die Schabbatregeln oder die Vorschriften zur rituellen Reinheit von Frau und Familie nicht einhalten – heute zweifellos die ganz überwiegende Mehrheit der Mitglieder  der deutschen Gemeinden.

Teil 2 folgt!

Prof. Dr. Andreas Gotzmann ist Professor für Judaistik an der Universität Erfurt.

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