15. Januar 2019

Maximilian Steinbeis

Das Minus zum Minimum: Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundes­verfassungs­gericht

Hartz IV ist das Minimum: Das Arbeitslosengeld II ist dazu da, das vom Bundesverfassungsgericht 2010 postulierte Recht jedes in Deutschland lebenden Menschen auf ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ zu gewährleisten. Wer das zum menschenwürdigen Dasein „unbedingt Erforderliche“ nicht hat, dem muss der Staat es verschaffen, einschließlich eines „Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Weniger als das ist menschenunwürdig.

Und doch kommt es regel-, plan- und gesetzmäßig und in nicht geringer Anzahl vor, dass Menschen auch dieses Minimum noch zusammengestrichen wird: Wer seine in § 31 SGB II niedergelegten Pflichten versäumt und etwa eine vollkommen hirnlose Weiterbildung hinschmeißt oder einen elenden Ausbeutungsjob nicht annehmen will, dem wird das Arbeitslosengeld II gekürzt, erst um 30%, dann um 60% und zuletzt ganz. Das kann nicht sein, fand 2016 das Sozialgericht Gotha und legte dem Bundesverfassungsgericht die § 31, 31a und 31b SGB II zur Kontrolle auf ihre Verfassungsmäßigkeit vor.

Heute hat der Erste Senat in Karlsruhe diese Vorlage mündlich verhandelt. Ich bin hingefahren. Mein Eindruck: da kommt was Größeres.

Selber schuld

Ulrich Karpenstein von der Kanzlei Redeker Sellner Dahs versuchte im Namen der Bundesregierung das Paradox vom minimierten Minimum wie folgt aufzulösen: An der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums wirke nicht nur der Staat, sondern auch der Mensch selbst mit. Das Maß seiner Mitwirkung gehöre bereits zum Tatbestand des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Daher sei es Teil der Ausgestaltung dieses Grundrechts, die dem Gesetzgeber aufgetragen ist, wenn er an diese Mitwirkung Anforderungen stellt. Wenn das SGB II somit Pflichten vorsieht und sanktioniert, Jobs und „Maßnahmen“ nicht auszuschlagen, dann sei dies Ausgestaltung des Grundrechts – und nicht etwa ein Eingriff in das Grundrecht.

Die Sanktionen sind in dieser Lesart somit nicht so sehr etwas, das der Staat dem Leistungsempfänger zufügt, sondern sozusagen dieser sich selbst: An der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mitzuwirken, sei eine „Selbsthilfeobliegenheit“, so Karpenstein. Wenn der ALG-II-Empfänger das Seine nicht beiträgt, dann schrumpft halt entsprechend sein Anspruch – nicht unähnlich zu der zivilrechtlichen Konstellation, dass jemand den Schaden mitverursacht hat, für den er Ersatz fordert (§ 254 BGB). Der „Vorrang der Selbsthilfe“ folge aus nichts Geringerem als der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG höchstselbst als Frage der „Achtung und Selbstachtung der Persönlichkeit“.

Da staunte ein Teil der Richterbank. Ob er damit nicht die Menschenwürde unter Abwägungsvorbehalt stelle, fragte Berichterstatterin Susanne Baer. Hinter der Menschenwürde stehe keine „Leistungsidee“. Sie komme jedem Menschen qua Menschsein zu, egal was er oder sie leiste. Ihre Kollegin Gabriele Britz fragte hörbar irritiert, ob es nicht ehrlicher wäre, gleich zu sagen, worum es geht, nämlich die Gemeinschaft zu entlasten, anstatt Art. 1 „aus dem Hut zu ziehen“ und die Menschenwürde ihrem Träger als Einschränkung entgegenzuhalten, als sei es „eine Wohltat für den Bedürftigen, ihn am Ende zu sanktionieren“.

Möglich, entgegnete Karpenstein kühl. Das sei aber gar nicht „die Position, die ich vertrete, sondern die des Senats.“ In der Entscheidung zu den Lohnabstandsklauseln aus dem Jahr 1999 habe sich „der Senat klar dazu bekannt, dass es der Menschenwürde entspricht, seine Existenz selber zu sichern.“

Wo denn nun das „unerlässliche Minimum“ liege, die „Grenze in der Grenze“, fragte Richter Andreas Paulus. In der Verhältnismäßigkeit, so Karpensteins Antwort. Das Minimum werde nicht unterschritten, sondern ergebe sich „aus den Normen selbst“ und müsse dabei verhältnismäßig sein. Verhältnismäßig gemessen an welchem Ziel? Das wollten mehrere Richter sehr genau wissen. Nach Ansicht von Karpenstein sei das Ziel die Integration in den Arbeitsmarkt, woraus sich auch die Untergrenze, sozusagen das Minimal-Minimum ergebe: Wenn man jemanden obdachlos macht, dann findet er erst recht keinen Job mehr. Und das sei unverhältnismäßig.

Was die Sanktionen bringen

Der Hauptteil der Verhandlung war der Diskussion gewidmet, wie die Mitwirkungspflichten und die Sanktionen in der Praxis aussehen und was sie bringen. Der Senat war erkennbar beeindruckt von der Zahl und Einmütigkeit von Stellungnahmen der Sozialverbände, die berichten, was alles schiefläuft.

Wenn die Bundesregierung schon so auf ihre Einschätzungsprärogative poche, mahnte Gabriele Britz, dann hätte man seit 2007 „schon einiges herausfinden können.“ Beim SGB II operiere der Gesetzgeber „am offenen Herzen“: es gehe immerhin um das Existenzminimum. Von der Bundesregierung habe sie aber insbesondere zu den höheren Sanktionen „klare belastbare Zahlen nicht gehört“.

Dass die §§ 31 ff. SGB II ganz ungeschoren aus dem Verfahren hervorgehen werden, scheint mir nach dem Verlauf der Verhandlung ziemlich unwahrscheinlich. Schwer zu vermitteln war der Richterbank vor allem, dass die Sanktionen zwangsläufig und starr für drei Monate verhängt werden, ob der zuständige Betreuer das für sinnvoll hält oder nicht.

Bundesregierung und Bundesagentur für Arbeit warnten eindringlich davor, den Jobcentern ein Ermessen einzuräumen. Das wäre „hoch risikoreich“, sagte BA-Chef Detlef Scheele. Wenn die Mitarbeiter vor Ort selber entscheiden und verantworten müssten, welche Folgen mangelnde Mitwirkung nach sich zieht, „dann möchte ich da nicht dabei sein“.

Einiges spricht auch dafür, dass die massiveren Stufen der Sanktionierung das Verfahren nicht überleben werden. Der Totalentzug der Stütze, die bei mehrfacher Verweigerung der Mitwirkung greift, sei auch aus seiner Sicht in der Tat verzichtbar, sagte Scheele, ebenso die Kürzung bei den Kosten der Unterkunft. Denkbar sei auch, die Sanktion enden zu lassen, wenn der Empfänger nachweislich seinen Mitwirkungspflichten wieder nachkommt.

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