In an equal democracy (…), the majority of the people, through their representatives, will outvote and prevail over the minority and their representatives. But does it follow that the minority should have no representatives at all? Because the majority ought to prevail over the minority, must the majority have all the votes, the minority none? Is it necessary that the minority should not even be heard? In a really equal democracy, every or any section would be represented, not disproportionately, but proportionately.
Das schrieb John Stuart Mill 1861 über das klassische britische Mehrheitswahlrecht. Das beruht bekanntlich auf dem Gedanken, dass in jedem Wahlkreis der Kandidat ins Parlament einzieht, der von allen Kandidaten am meisten Stimmen erhält. Auch wenn nur ein Fünftel der Wähler ihn gewählt haben, gewinnt er das Mandat, solange nur alle anderen Kandidaten noch weniger Stimmen haben.
Dieses Wahlsystem, bei allem Respekt für die Wiege der Demokratie in Europa, ist ein anachronistisches undemokratisches Ärgernis und gehört reformiert. Und genau das hat die LibDem-Torie-Koalition auch vor: Das neue Wahlrecht soll dafür sorgen, dass die Stimmen der Zweit- und Drittplazierten usw. nicht länger unter den Tisch fallen und das Mandat möglichst an den geht, der tatsächlich am meisten Unterstützung in seinem Wahlkreis erfährt.
Das ist verfassungspolitisch alles sehr schön. Aber verfassungsrechtlich ist der Befund dieser: Das alte System mit all seinen Fehlern wäre in Deutschland unter dem Grundgesetz möglich, zulässig und erlaubt; das hat das Bundesverfassungsgericht in keiner seiner Wahlrechts-Entscheidungen versäumt zu betonen.
Das neue System, das die von Nick Clegg (Foto) angeführten Liberal-Democrats durchsetzen wollen, um endlich nicht mehr auf einen Bruchteil ihrer tatsächlichen Stärke heruntermajorisiert zu werden – dieses neue System dagegen wäre, wenn mich nicht alles täuscht, in Deutschland verfassungswidrig.
Alice verliert, wenn sie gewinnt
Das von LibDem favorisierte System heißt „Alternative Vote“. Unter Wahlrechts-Experten, unter denen sich auch viele Mathematiker herumtreiben und die vielleicht deshalb dazu neigen, ihre Modelle mit seltsamen Namen zu belegen, wird es auch „Instant Runoff“ genannt. Dieses System läuft darauf hinaus, dass die Wähler nicht nur ihren Lieblings-Kandidaten ankreuzen, sondern auch ihren Zweit-Liebling, ihren Dritt-Liebling usw., kurz: dass sie die Kandidatenliste in eine persönliche Hitparade ordnen.
Wenn einer der Kandidaten für mehr als die Hälfte die erste Wahl ist, dann wird er Abgeorndeter. Wenn dagegen keiner eine so klare Mehrheit erreicht, dann wird zunächst der Kandidat mit den wenigsten Stimmen aus dem Rennen genommen. Dann kommt es darauf an, wen dessen Wähler auf Nr. 2 gesetzt haben: Wenn jetzt einer der Kandidaten zusammengenommen auf über 50% kommt, ist er Sieger. Wenn nicht, wird das Spiel wiederholt – solange, bis einer eine absolute Mehrheit hat und somit mit Fug und Recht für sich das Mandat in Anspruch nehmen kann, den jeweiligen Wahlkreis im Parlament zu vertreten.
Das System hat den Vorzug, dass es wie eine logische Fortentwicklung des klassischen Mehrheitswahlrechts erscheint. Und den Briten weiterhin ermöglicht, sich von den schlampigen kontinentalen Verhältniswahl-Verhältnissen abzugrenzen.
Es gibt auch Praxisbeispiele: Die Australier wählen seit 1918 so ihr Parlament. Auch die Oskar-Verleihungen funktionieren nach diesem Muster.
Der Haken daran ist – und hier kommen die Mathematiker ins Spiel – dass in diesem System relativ geringfügige Verschiebungen in den persönlichen Hitparaden der Wähler zu dramatisch unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Damit nicht genug: Es ist möglich, dass ein Kandidat verliert, wenn ein Teil der Wähler ihn auf Platz 1 ranken – und gewonnen hätte, wenn sie ihn auf Platz 2 gerankt hätten.
Im Guardian fand sich vor ein paar Wochen ein Rechenbeispiel, das diesen Effekt belegt:
For instance, suppose 21 voters are voting for three candidates: Alice, Bob and Charlie. Eight voters rank the candidates Alice 1, Bob 2, Charlie 3; two rank them Bob 1, Alice 2, Charlie 3; five rank them Bob 1, Charlie 2, Alice 3; and six rank them Charlie 1, Alice 2, Bob 3. Since Charlie has the fewest first-place votes, he is eliminated, and those six votes now have Alice in first place, so she wins 14 to 7.
But suppose the vote were slightly different, and the two voters who put Bob first had instead ranked Alice top (Alice 1, Bob 2, Charlie 3). Now Bob, with only five first-place votes, is eliminated and those five rankings then have Charlie in first place, so Charlie wins 11 to 10. Moving Alice up in a few rankings converts her from a winner to a loser, because in doing so there is a change in which candidate is eliminated.
Negatives Stimmgewicht
Das kommt uns bekannt vor, oder? Vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht Teile des Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig erklärt, weil es Konstellationen zuließ, in denen man einer Partei, der man seine Stimme gab, gerade damit schadete – die Nachwahl in Sachsen, wir erinnern uns.
Mit einem solchen „negativen Stimmgewicht“ haben wir es auch im Rechenbeispiel aus dem Guardian zu tun. Man kann einem Kandidaten dadurch schaden, dass man ihn auf Platz 1 rankt, und dadurch nützen, dass man ihm jemand anderes vorzieht.
Das BVerfG sagt dazu folgendes:
Ein Berechnungsverfahren, das dazu führt, dass eine Wählerstimme für eine Partei eine Wirkung gegen diese Partei hat, widerspricht aber Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl.
Und das gilt keineswegs nur für Wahlsysteme des Verhältniswahlrechts:
Die Erfolgschancengleichheit erlaubt zwar, dass – wie zum Beispiel im Mehrheitswahlrecht – Stimmen nicht gewertet werden, nicht aber, dass einer Wahlstimme neben der Chance, zum beabsichtigten Erfolg beizutragen, auch die Gefahr, dem eigenen Wahlziel zu schaden, innewohnt.
Außerdem verletzt das negative Stimmgewicht den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, weil der Wähler nicht erkennen kann, wie sich seine Stimmabgabe auswirkt.
Punkte vergeben statt Kreuzchen machen
Was tun? In dem besagten Guardian-Artikel wird ein Ausweg vorgeschlagen, der das Problem des negativen Stimmgewichts vermeidet: Approval Voting.
Dabei werden die Kandidaten nicht gerankt, sondern sozusagen benotet. Sie bekommen von den Wählern Punkte. Man kann auch einfach sagen: Jeder Wähler hat 100 Stimmen, und die kann er auf so viele Kandidaten verteilen, wie er will. Wer in einem Wahlkreis am besten abschneidet, hat gewonnen.
Das System ist einfach, transparent, gerecht und effizient. Es ist auch nicht so, dass es keine Erfahrung damit gibt. Denn es wird sowieso schon allenthalben praktiziert: Restaurants, Weine, Bücher, Musik – wo immer man herausfinden will, was die Leute am liebsten haben, wird instinktiv nach diesem System gegriffen, zumal im Zeitalter des Internet.
Nur bei Politikern nicht.
Immerhin wählen offenbar sowohl die American Statistical Association als auch die Mathematical Association of America auf diese Weise ihre Vorstände. Das ist doch schon mal eine klare Ansage: Was die Experten für sich selber für gut befinden, das kann so schlecht nicht sein.
Aber es gibt kein einziges Land, das nach diesem System seine politische Führung wählt. Warum eigentlich? Was macht die politische Wahl so besonders, dass wir im Regelfall nicht einmal auf die Idee kommen, die Präferenzen der Bevölkerung hier auf die gleiche Weise zu messen wie überall woanders auch?
Ideen und Anmerkungen willkommen.
Update: Wer sich fragt, wie die deutschen Mathematiker ihr Präsidium wählen, findet die Antwort hier.
