15. April 2021

Jan-Erik Schirmer

Das Private ist politisch

Warum das Mietendeckelurteil eine gute Nachricht für ein progressives Privatrecht ist

Der Berliner Mietendeckel ist nichtig. Zuständig ist nicht das Land Berlin, sondern der Bund, heißt es aus Karlsruhe. So weit, so erwartbar. Trotzdem ist der erste Aufschrei innerhalb des progressiven Lagers groß. Tim Wihl spricht gar von einem formalistischen „Fehlurteil“, das im Kern mit einer „wiederbelebten, aber schon immer falschen public private distinction“ operiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Mit dem Mietendeckelurteil hat das Bundesverfassungsgericht die Tür zu einem sozialen und nachhaltigen Privatrecht weiter aufgestoßen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt sich auf zweierlei Arten lesen. Zunächst als Absage, was die Länder alles nicht regeln können. Das ist die Kernaussage in Bezug auf den Mietendeckel. Berlin hat sich übernommen, der Mietendeckel ist nichtig. Umgekehrt enthält es aber auch eine Zusage, was der Bund alles regeln kann. Ganz konkret einen Mietendeckel, der dann auch in Hamburg oder München greifen würde. Aber hier bleibt das Urteil nicht stehen, und genau hier wird es besonders interessant. „Der Gesetzgeber“, heißt es in Randnummer 139 eher lapidar, „kann insbesondere mit der entsprechenden Ausgestaltung des bürgerlichen Rechts soziale und andere Ziele verfolgen“.

Das mag in den Ohren öffentlich-rechtlich geprägter Leser:innen unspektakulär klingen. Für privatrechtliche Ohren ist es eine kleine Sensation. Denn damit wiederbelebt das Urteil gerade nicht die „schon immer falsche public private distinction“. Sie wird mit einem Satz abgeräumt. Die public private distinction ist nämlich zuallererst eine inhaltliche Grenzziehung: Wer sich auf sie beruft, will damit regelmäßig soziale Ziele aus dem Privatrecht heraushalten. Privatrecht, so die These, ist ein unpolitischer „Freiheitstraum“, der die selbstbestimmten Individuen weitgehend gewähren lässt und nur rudimentär die Spielregeln definiert.

Diese These war in der Tat „schon immer falsch“. Aber das hat wenig daran geändert, dass sie im Privatrecht immer vertreten wurde und bis in die Gegenwart vertreten wird. Die wissenschaftliche Rezeption des Verbraucherschutzes oder des Antidiskriminierungsrechts sind klassische Beispiele: Da war von der „Tugendrepublik der neuen Jakobiner“ die Rede, einige riefen den „Anfang vom Ende der Privatautonomie“ aus, andere befürchteten eine „Erosion des Privatrechts“. Aber auch in der jüngeren Diskussion ist die public private distinction nicht tot zu kriegen. Beispiele sind Überlegungen für eine Klimahaftung von fossilen Energieerzeugern, Ressourcenschutz via Gewährleistungsrecht oder eine Lieferkettenverantwortlichkeit für im globalen Süden operierende Großunternehmen. Zwar leugnet kaum eine privatrechtliche Stimme, dass es sich dabei um wichtige Themen handelt, die nach rechtlichen Antworten verlangen. Aber dann doch bitte, wie es sich gehört, nämlich mit öffentlich-rechtlichen Mitteln wie sanktionsbewährten Ge- und Verboten oder Steuern. Privatrecht, heißt es dagegen, sei „kein adäquates Instrument“ zur Lösung des gesamtgesellschaftlichen Klimaproblems, manche sehen gar eine „Revolution“ aufziehen.

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass jedenfalls die „radikale“ Lesart der public private distinction nicht nur ästhetische Einwände erhebt. Es geht also nicht nur darum, das System des „Freiheitsraums“ möglichst rein und kohärent zu halten. Es geht um ein überpositives, letztlich naturrechtliches Verständnis, wie Privatrecht sein darf. Der radikale Kern der public private distinction steht für ein feststehendes Sosein des Privatrechts: frei, unpolitisch – und vor allem immer und ewig. Und weil das so ist, muss sich dann auch der Gesetzgeber an dieses überzeitliche Sosein des Privatrechts halten. Tut er es nicht, lädt er das Privatrecht mit etwas auf, was nicht dorthin gehört, verfolgt „privatrechtsfremde“ Ziele, ja zettelt letztlich eine „Revolution“ an.

Diese und andere Einwände mag man als Schwanengesänge einer untergehenden Welt abtun – psychologisch mitunter interessant, positivrechtlich aber weitgehend belanglos. Wenn der Privatrechtsgesetzgeber einen Mietendeckel oder eine Lieferkettenhaftung einführen möchte, dann tut er das halt einfach. Das wird der Wirkungsmacht der public private distinction aber nicht gerecht. Sie ist immer noch eine Flagge, um die sich viele Privatrechtler:innen versammeln. Wer dazugehört, lässt sich die Familie eben ungern vorschreiben. My backyard, my rules!

Und damit wären wir wieder bei der Mietendeckel-Entscheidung. Natürlich wird sie nicht jahrzehntelang eingeübte Selbstverständnisse von heute auf morgen erschüttern. Aber sie kann bei gegenwärtigen und zukünftigen Debatten über vermeintlich „privatrechtsfremde“ Inhalte als wichtiger Stichwortgeber dienen. Einerseits im Gesetzgebungsprozess, weil die public private distinction von Gegnern hier gerne zur vermeintlich unüberwindbaren Grenzlinie hochgerüstet wird – siehe die seinerzeitige Debatte um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz oder heute CSR. Vor allem aber in Gerichtsverfahren, wo das Argument häufig dazu genutzt wird, Gerichte von neuartigen Anspruchskonstruktionen abzuhalten. Ein Beispiel ist der aktuell vor dem OLG Hamm laufende Prozess des Peruaners Saúl Luciano Lliuya, der die RWE-AG auf Aufwendungsersatz mit der Begründung verklagt, wegen des von RWE mitverursachten Klimawandels sei sein Eigentum vor Überflutung bedroht. Auch hier wird von der Gegenseite die public private distinction als vermeintlich schlagendes Argument bemüht: Klimaschutz ist zwar wichtig und richtig, aber doch bitte durch öffentlich-rechtliche Mittel. Für gesellschaftspolitische Anliegen ist Privatrecht schlicht nicht gemacht. Auf nähere Gedanken zu Kausalitäts- oder Zurechnungsfragen kommt es daher sowieso nicht an, Ende der Debatte.

„Der Gesetzgeber kann insbesondere mit der entsprechenden Ausgestaltung des bürgerlichen Rechts soziale und andere Ziele verfolgen“. Das wussten zwar viele schon vorher, mitunter selbst die Anhänger:innen der public private distinction. Aber jetzt ist die These vom privatrechtlichen „Freiheitsraum“ von höchster Stelle als das identifiziert, was sie ist und immer war: ein Traumschloss. Wer – wie ich es tue – für ein Privatrecht eintritt, das neben dem klassischen Freiheitsversprechen auch für Klimaschutz oder verbesserte Lebensbedingungen im globalen Süden eintritt, hat nun mit Karlsruhe einen prominenten Fürsprecher. Was sich heute wie eine Niederlage anfühlt, könnte morgen eine wichtige Grundlage für ein soziales und nachhaltiges Privatrecht sein.

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